1967 - 2007:
Vierzig schlimme JahreUri Avnery
„RUHE KAM über die Müden / und Entspannung über die
Arbeiter / Bleiche Nacht bedeckt / die Felder im Jesreeltal / Unten der Tau
/ und oben der Mond / vom Kibbuz Bet Alfa bis Moshav Nahalal…“
So sangen wir, als wir jung waren. Jetzt ist es ein
Fernseh-Nostalgieprogramm: junge Leute aus den Fünfzigern singen die Lieder
der Pioniere.
Die Gedanken gehen zurück. Wer waren die Pioniere, die als erste diese
Lieder sangen?
Sie kamen aus reichen Häusern in Petersburg, aus den Schtetl Galiziens,
Söhne und Töchter von Universitätsprofessoren in Deutschland. Sie hätten
nach Amerika auswandern können, wie es die meisten der Immigranten damals
machten. Sie wurden aber von einem fernen Land im Orient angezogen – zu
einem großen nationalen Abenteuer. Sie lebten in elender Armut, taten unter
glühender Sonne, die sich nicht gewohnt waren, Schwerstarbeit, und träumten
von einer perfekten menschlichen Gesellschaft.
Sie waren wirkliche Idealisten. Sie nahmen gar nicht wahr, dass sie dabei
waren, ein anderes Volk zu verletzen. Die Araber waren für sie ein Teil der
romantischen Landschaft. Sie glaubten in aller Unschuld, sie brächten allen
Einwohnern des Landes Segen und Fortschritt.
Heute, vier oder fünf Generationen später sehen sie ganz anders aus. Ihre
Unschuld ist vergessen. Für viele sieht sie wie reine Heuchelei aus, ein
Vorwand für Landraub und Unterdrückung.
Das ist eine der Folgen von 40 Jahren Besatzung. Die jetzigen Siedler
behaupten, die Nachfolger jener Pioniere der 20er und 30er Jahre zu sein.
Sie sagen, sie seien die Pioniere von heute. Diese gewalttätigen, raubenden
Grobiane erwarten von uns wirklich, dass man Pioniere von damals als ihre
geistigen Väter ansieht.
Wenn wir all den Schaden zusammenaddieren, den die Besatzung uns zugefügt
hat – ja, auch uns und nicht nur den direkten Opfern, den Einwohnern der
besetzten Gebiete - so sollten wir dies nicht vergessen. Die Besatzung
vergiftet die nationale Erinnerung. Sie beschmutzt nicht nur die Gegenwart,
sondern auch die Vergangenheit und zwar nicht nur in den Augen der Welt,
sondern auch in unseren eigenen Augen.
ES IST schon genug, was die Besatzung gegenüber der jüdischen Religion
angetan hat.
In meiner Kindheit wurde ich gelehrt, dass das Judentum eine humane Religion
sei, „ein Licht unter den Völkern“. Judentum bedeutet Gewalt abzulehnen, die
geistigen Kräfte den körperlichen vorzuziehen, einen Feind zum Freund zu
machen. Einem Juden ist es erlaubt, sich selbst zu verteidigen – „Wenn
jemand auf dich zukommt, um dich zu töten, dann töte ihn zuerst“ – so steht
es im Talmud. Aber nicht, weil er Gewalt liebt und von der Macht berauscht
ist.
Was ist davon geblieben?
Besorgte Freunde sandten mir vor kurzem eine E-Mail mit einigen
haarsträubenden Zitaten eines Statements von Rabbiner Mordechai Eliyahu, dem
früheren sephardischen Oberrabbiner Israels und dem geistigen Führer der
Siedler und des ganzen religiös- zionistischen Lagers. In einem Brief an den
Ministerpräsidenten urteilt der Rabbiner, dass es unzulässig sei, Mitleid
mit der zivilen Bevölkerung von Gaza zu haben, wenn sie israelische Soldaten
gefährde. Sein Sohn Shmuel interpretierte diese Verfügung im Auftrag seines
Vaters: wenn das Töten von 100 Arabern nicht ausreicht, um den Beschuss mit
Kassam-Raketen zu beenden, dann müssen Tausend getötet werden. Und wenn dies
nicht genügt, dann 10 000 und
100 000 oder gar eine Million. All dies, um die Kassams zu stoppen, denen es
in all den Jahren kaum gelungen ist, ein Dutzend Juden zu töten.
Welche Verbindung gibt es zwischen dieser „religiösen“ Einstellung und dem
Gott, der in Genesis 18 versprochen hat, Sodom nicht zu zerstören, wenn in
ihr nur zehn Gerechte gefunden werden?
Welchen Unterschied gibt es zwischen dieser moralischen Haltung und der
Nazi-Methode, zehn Geiseln für jeden vom Widerstand getöteten deutschen
Soldaten zu erschießen?
Die Verfügung des Rabbiners hat keine Reaktion hervorgerufen. Es gab keinen
Aufschrei, weder von seinen Anhängern noch von der allgemeinen
Öffentlichkeit. Die Zahl der Rabbiner, die öffentlich solche Methoden
unterstützen, geht in die Hunderte. Die meisten kommen aus den Siedlungen.
Dies ist eine „religiöse“ Ansicht, die in der vergifteten Atmosphäre der
Besatzung gedeihen konnte, eine Besatzungsreligion. Sie bringt über die
ganze jüdische Religion der Gegenwart und Vergangenheit Schande.
Kein Wunder, dass eine Person mit starkem religiösen Bewusstsein, Avraham
Burg, der frühere Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency,
sich in dieser Woche vom Zionismus losgesagt hat und forderte, die
Bezeichnung Israels als „Jüdischen Staat“ aufzugeben.
DER HINWEIS, dass die Besatzung die israelische Armee zerstört, ist nicht
neu.
Eine Armee kann ihre Aufgabe, den Staat gegen potentielle Feinde zu
verteidigen, nicht mehr erfüllen, wenn sie jahrzehntelang als
Kolonialpolizei beschäftigt war. Man kann Todesschwadronen attraktive Namen
verpassen – „Kommando Mango“ oder „Einheit Pfirsich“ – doch bleiben sie, was
sie sind: ein Instrument brutalen Mordens und der Unterdrückung.
Ein Offizier, der heute eine Aktion einer Undercovereinheit in der Altstadt
von Nablus – nämlich den Mord an einem „ranghohen Militanten“ im Mafiastil
plant - wird anderntags nicht in der Lage sein, ein Panzerbataillon gegen
einen raffinierten Feind zu führen. Eine Armee, die auf Steinewerfer
schießt, Kinder in den Gassen des Flüchtlingslagers Balata verfolgt oder
eine Ein-Tonnen-Bombe auf Wohngebäude wirft, kann nicht über Nacht zu einer
wirksamen Militärmacht auf einem modernen Schlachtfeld werden.
Man muss gar nicht den Vinograd-Bericht gelesen haben. Es genügt, die
Kommandeure von 1967 – Leute wie Yitzhak Rabin, Israel Tal, Ezer Weizman,
Dado Elazar und Matti Peled – mit den entsprechenden Leuten von heute zu
vergleichen. Nach 40 Jahren verachtenswürdigem Tun gegen eine wehrlose
Bevölkerung zieht die Armee keine jungen Leute mehr an, die selbständig
denken und hoch motiviert sind, Leute die wagen und improvisieren können.
Sie zieht die Mittelmäßigen der Mittelmäßigen an.
Im Sechstage-Krieg hatten wir eine kleine, hoch entwickelte Armee, die den
Staat innerhalb der Grünen Linie verteidigte, die von Abba Eban mit
„Auschwitzgrenze“ beschrieben wurde. Diese Armee benötigte kaum sechs Tage,
um vier gegnerische Armeen zu besiegen. Seitdem ist das Gebiet größer
geworden und hat ideale „Sicherheitsgrenzen“ erreicht, die Armee ist viel
größer geworden und ihr Budget viel aufgeblasener. Die Ergebnisse konnten im
zweiten Libanonkrieg gesehen werden.
Vom militärischen Gesichtspunkt aus ist die Besatzung eine ernste Bedrohung
der Sicherheit des Staates.
DER OBERSTE Gerichtshof ist nicht verschont geblieben. Früher haben
Meinungsumfragen gezeigt, dass die Öffentlichkeit die Knesset verhöhnt und
die Regierung verspottet, aber den Obersten Gerichtshof als eine Bastion der
Demokratie und als eine Quelle des Stolzes respektierte.
Jetzt wird offensichtlich, dass es dafür keine solide Basis gab. In dem
Augenblick, in dem der Oberste Richter Aharon Barak sich aus dem
Gerichtswesen zurückzog, versank das ganze juristische System in einem
Morast von Intrigen, gegenseitiger Anklagen und sogar übler Nachrede. Nicht
nur in anonymen Internetblocks, sondern auch in den Statements des neuen
Justizministers, der von einem von persönlichen Korruptionsskandalen
verfolgten Ministerpräsidenten ernannt wurde.
Wie konnte das geschehen?
Seit vielen Jahren hat der Gerichtshof in einer Welt der Illusionen gelebt.
Die Richter verschlossen ihre Augen vor ihren eigenen Taten. Während sie
glaubten, eine Festung des Liberalismus und der Demokratie zu sein,
erlaubten sie außergerichtliche Todesstrafen. Sie verschlossen ihre Augen,
während Folteranwendung zur Routine wurde. Sie erschufen riesige Mengen
sophistischer Argumente, um zu beweisen, dass die monströse Mauer aus
Sicherheitsgründen notwendig sei und ignorierten dabei die offensichtliche
Tatsache, dass es ihr Hauptziel ist, weiteres Land für die Siedlungen zu
grabschen.
Als der Internationale Gerichtshof in Den Haag seine einfache, klare und
unwiderlegbare Meinung äußerte, dass die Mauer das Völkerecht und die
verschiedenen Konventionen verletzt, die auch Israel unterzeichnet hat,
stimmte unser Oberster Gerichtshof nicht damit überein.
Ein Gericht, das sich auf einem Gebiet selbst belügt, kann nicht auf einem
anderen seine Integrität aufrecht erhalten. Die „Bastion der Demokratie“
wurde untergraben und fällt völlig in sich zusammen.
In der Zwischenzeit wird das Gesetzesbuch mit rassistischer Gesetzgebung
besudelt: angefangen mit dem Gesetz, dass es israelischen Bürgern
verunmöglicht mit ihren palästinensischen Ehepartnern in Israel zu leben,
bis zu jenem Erlass, der in dieser Woche die Zustimmung der Knesset in
erster Abstimmung erhalten hat, und der es mit den Stimmen von nur 80
Knessetmitgliedern gestattet, ein jedes Knessetmitglied aus der Knesset
auszuschließen, dass es wagen sollte, Kritik an einem Minister des Kabinetts
oder einem hochrangigen Armeeangehörigen zu äußern, und zwar gleich, ob dies
im Parlament oder außerhalb desselben geschieht.
ES KANN nicht verleugnet werden: 40 Jahre Besatzung haben den Staat Israel
bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Das stimmt für alle Lebensbereiche. Alle sind davon betroffen worden.
Die 18Jährigen, die von anständigen Eltern als Menschen mit moralischen
Werten erzogen worden waren, werden zum Militär eingezogen und werden so zu
einem Teil der brutalen Subkultur ihrer Einheiten. Sie werden indoktriniert,
dass jeder brutale Akt gegen Araber gerechtfertigt sei. Nur wenige und
besondere Individuen sind in der Lage, sich dem Druck zu entziehen. Nach
drei Jahren Militärdienst verlässt die Mehrheit die Armee als harte Männer
mit abgestumpften Gefühlen. Die Brutalität in unsern Straßen, das
routinemäßige Töten rund um unsere Diskotheken, die Verbreitung von
Vergewaltigungen und die Gewalt innerhalb der Familien – all dies wurde
zweifelsohne durch die tägliche Realität der Besatzung beeinflusst.
Schließlich wird diese ja durch dieselben Personen realisiert.
Ein Polizist, der nach Hebron und an den Hawara-Kontrollpunkt gesandt wird,
und der die Bewohner dort wie minderwertige Geschöpfe behandelt, der wie ein
Sadist handelt oder den Sadismus seiner Kameraden duldet – wird er zu einer
anderen Person, wenn er nach Tel Aviv, Haifa oder Shfa’ram zurück versetzt
wird? Wird er am nächsten Morgen aufwachen und sich -wunderbarerweise - in
einen liebevollen Mitmenschen in einer demokratischen Gesellschaft
verwandelt haben?
Seit Jahren lügen die Sicherheitsdienste, die Polizei und die Armee über die
Dinge, die sich in den besetzten Gebieten ereignen. Das Lügen wurde zur
Routine. Nur wenige Journalisten in der Welt akzeptieren fraglos diese
Statements. Und wenn man sich ans Lügen in einem Sektor gewöhnt hat, kann
die Verlogenheit woanders nicht aufgehalten werden. Die Lügner der Armee,
der Polizei und der anderen Dienste haben sich daran gewöhnt, auch in
anderen Angelegenheiten zu lügen.
In den besetzten Gebieten herrscht die Korruption. Angehörige der
Militärverwaltung legen ihre Uniform ab und führen dort zweifelhafte
Geschäfte. Kapitalistische Raubritter profitieren auch davon. Natürlich ist
dies nicht die einzige Quelle der Korruption, die sich zu einem Fluch
unseres Staates entwickelt hat, aber es handelt sich sicher um einen
mitwirkenden Faktor.
DIE BESATZUNG schafft Fäulnis, die durch alle Poren des nationalen
Organismus dringt.
Nach 40 Jahren gibt es wenig Ähnlichkeit zwischen dem Staat Israel, wie er
heute ist und dem, wie die Gründer in ihrer Phantasie ihn sich vorgestellt
haben: ein Modell sozialer Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Friedens.
Die Gründer träumten von einer modernen, aufgeklärten, säkularen, liberalen,
sozial fortschrittlichen Gesellschaft mit blühender Wirtschaft, die allen
zugute kommt. Die Realität, wie wir sie kennen, sieht total anders aus.
Es stimmt wohl, dass man der Besatzung nicht alle Schuld zuschieben kann.
Auch vor 1967 war der Staat längst nicht perfekt. Aber die Gesellschaft
hatte das Gefühl, dass dies eine vorübergehende Situation wäre. Die Dinge
können repariert und verbessert werden. Als die israelische Republik zu
einem israelischen Empire wurde, begann die dramatische Veränderung.
AM ENDE DES Sechs-Tage-Kriegs salutierte uns die ganze Welt. Der kleine
tapfere David hatte gegen Goliath gesiegt. Nun werden wir als der gemeine,
brutale Goliath angesehen.
Der gegen Israel angekündigte Boykott verschiedener ausländischer
Organisationen, sollte ein Warnlicht aufleuchten lassen. In der
Unabhängigkeitserklärung der USA schrieb Thomas Jefferson, dass sich jede
Nation mit einer "geziemenden Achtung vor den Meinungen des
Menschengeschlechts" verhalten solle. Das war nicht nur eine Sache der
Moral, sondern auch des praktischen gesunden Menschenverstandes. Eine von
unserer Seite aufrecht erhaltene Besatzung, die das Völkerrecht verletzt,
spuckt den "Meinungen des Menschengeschlechts" ins Gesicht.
Von Israel erwartet man anderes als vom Kongo und Sudan. Aber seit Jahren
sehen Hunderte Millionen Menschen fast täglich mit an, wie Israel in der
Gestalt von bis an die Zähne bewaffneten Besatzungssoldaten, eine hilflose
Bevölkerung brutal misshandelt. Die aufgestaute Wirkung dieser Bilder wird
nun deutlich.
Man kann der Meinung der Weltöffentlichkeit mit Verachtung begegnen – im
Sinne von Stalins Frage: „Wie viel Divisionen hat der Papst?“ Doch das ist
dumm. Die internationale Meinung kann auf tausend verschiedene Weisen zum
Ausdruck kommen. Sie beeinflusst die Politik der Regierungen und der zivilen
Gesellschaft. Die Versuche eines Boykotts sind nur ein frühes Symptom.
Aber jenseits all der schlimmen Dinge, die die Besatzung über Israel
gebracht hat – innerhalb und außerhalb – gibt es etwas, das uns alle
betrifft. Jeder Mensch möchte stolz auf sein Land sein. Die Besatzung nimmt
uns diesen Stolz.
AM VIERZIGSTEN Jahrestages der Besatzung von Ost-Jerusalem wollte ein
ausländischer Fernsehsender mit mir im muslimischen Viertel der Altstadt ein
Interview machen. Wir gingen in die Via Dolorosa, den sog. Kreuzweg. Die
Straße war fast leer. Die Geschäftsleute von Läden mit Antiquitäten,
wertvollen Teppichen und Souvenirs standen mit verzweifelten Gesichtern auf
ihren Türschwellen und versuchten, uns hineinzulocken.
Von Zeit zu Zeit ging eine kleine Gruppe Touristen vorbei. Jede Gruppe war
von vier Sicherheitsbeamten in weißen Uniformen begleitet, zwei vor der
Gruppe und zwei am Ende und jeder hielt eine geladene Pistole schussbereit
in der Hand. So geht man heute durch die Straße.
Das ist die Realität des „vereinigten und unteilbaren Jerusalem, der ewigen
Hauptstadt Israels“ - so der offizielle Slogan 40 Jahre nach seiner
„Befreiung“.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert) |