
EIN RÜCKBLICK AUF DIE GESCHICHTE ISRAELS:
Was ist falsch gelaufen?
Von AMOS ELON *
* Israelischer Schriftsteller. Zuletzt erschien: "Zu
einer anderen Zeit. Portrait der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)"
München (Hanser) 2003.
"Macht keine Dummheiten, während ich tot bin", schrieb der
Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, 1904, kurz vor seinem Tod,
in einem Brief an seinen Nachfolger. Die Mahnung des erst 44-jährigen Herzl
war nicht ganz ernst gemeint, aber das Zitat scheint mir dennoch
aufschlussreich. Denn von all den im 19. Jahrhundert begonnenen Versuchen,
einen Nationalstaat zu gründen, war Herzls Unternehmen zweifellos das
ungewöhnlichste und sicher auch eines der schwierigsten. In jedem Fall war
es dasjenige, das sich aufgrund seiner Komplexitiät und seiner ungewissen
Erfolgsaussichten am wenigsten irgendwelche "Dummheiten" leisten konnte.
Das nationale Projekt der Zionisten unterschied sich
grundsätzlich von allen anderen. Es handelte sich um eine Kolonisierung ohne
Mutterland und ohne die Unterstützung einer existierenden Staatsmacht. Das
war - gelinde gesagt - eine schwierige Aufgabe angesichts eines Landes, das
weder über Wasser noch über natürliche Ressourcen verfügte und keine
erkennbaren finanziellen Anreize bot. Cecil Rhodes, die herausragende Figur
des britischen Imperialismus, wurde einmal von einem Freund Herzls um Rat
gefragt, wie man das zionistische Projekt anpacken könne. Die Antwort
lautete: "Sagen Sie Dr. Herzl, er soll sich Geld einstecken." Geld war
freilich etwas, was Herzl fast nie hatte. "Das Geheimnis, das ich vor allen
hüte, ist die Tatsache, dass ich einer Bewegung von Schnorrern und Narren
vorstehe", gestand er in einem Brief. Die Reichen hatten - mit wenigen
Ausnahmen - für seine Pläne nichts übrig. Die ersten Siedler waren meist
mittellose Idealisten, soziale Anarchisten, Narodniks, die sich einer
verqueren "Religion der harten Arbeit" verschrieben hatten. 90 Prozent der
Einwanderer, die zwischen 1904 und 1914 in Palästina eintrafen, kehrten nach
Europa zurück oder gingen in die USA.
Andere Nationalbewegungen hatten ihre unterdrückten Völker befreien und
einen Nationalstaat gründen wollen, der alle Menschen derselben Sprache auf
seinem Territorium vereinigen sollte. Anders die Zionisten. Sie appellierten
an Juden, die in dutzenden Ländern und ebenso vielen Sprachen zu Hause
waren. Sie sollten sich in einer entfernten, heruntergekommenen Provinz des
Osmanischen Reiches ansiedeln, wo zwar vor tausenden von Jahren ihre
Vorfahren gelebt hatten, die jetzt aber von einem anderen Volk mit einer
anderen Sprache und Religion bewohnt wurde. Überdies unternahm dieses andere
Volk gerade selbst die ersten Schritte seiner nationalen Wiedergeburt und
sah in den jüdischen Siedlern gefährliche Eindringlinge, denen man sich
entgegenstellen musste.
Einer von Herzls engsten Mitarbeitern soll ihm eines Tages ganz aufgeregt
eine überraschende Entdeckung übermittelt haben: "Mensch, in Palästina gibt
es Araber! Das hab ich gar nicht gewusst!" Die Anekdote ist nicht
hundertprozentig verbürgt, aber sie bringt die wesentlichen Probleme des
zionistischen Projekts auf den Punkt. Wie Herzl auf seinen Freund reagiert
hat, weiß man nicht, aber ganz gewiss hat er sich im Unterschied zu vielen
Zionisten auf keine "historischen Rechte" berufen. Denn Herzl glaubte nicht
an irgendwelche "historischen Rechte". Aufgrund seiner Geschichtskenntnisse
war er sich sehr wohl bewusst, wie viel Unheil durch das Streben nach
solchen Rechten entstanden war, man denke nur an die Deutschen, die
Franzosen, die Österreicher oder die Völker auf dem Balkan. Aber Herzl hatte
auch eine fast unheimliche Vorahnung, dass den Juden eine düstere Periode
bevorstand. Er war überzeugt, dass mächtige Triebkräfte am Werk waren, die
der zionistischen Sache eine historische Rechtfertigung liefern würden. Die
späteren Ereignisse haben ihm Recht gegeben.
Angesichts so vieler unüberwindlich scheinender Schwierigkeiten ist es
bemerkenswert, dass die zionistischen Führer so wenige historische
"Dummheiten" begangen haben. Diese blieben bis Mitte der 1950er-Jahre,
immerhin 50 Jahre nach Herzls Tod, eine seltene Ausnahme und stifteten nur
begrenzten Schaden, der weder endgültig noch irreparabel war. Das
zionistische Projekt lag in den Händen von nüchternen Praktikern, die mit
der europäischen und der Weltpolitik vertraut waren und keine übermäßigen
Risiken eingingen. Sieht man von den paar Heißspornen ab, die Chaim
Weizmann, der überaus rationale Zionistenführer der Zwischenkriegszeit,
abfällig als "unsere d'Annunzios" bezeichnete, zeigte diese Generation keine
Neigung, ihre Karten zu überreizen. Diesen Leuten war klar, dass sie ein
ungewöhnliches Unterfangen betrieben, das in gewisser Weise den
Haupttendenzen des Weltgeschehens zuwiderlief. Da sie sich einer vorwiegend
feindlichen arabischen Bevölkerung gegenübersahen, machten sie sich
ernsthafte Gedanken über Kompromisslösungen in Form von binationalen
Modellen oder Teilungsplänen (also auch über Lösungen, die der zionistischen
Sache abträglich waren, was für mehrere der sondierten Teilungsmodelle gilt,
die von ihnen selbst akzeptiert, von arabischer Seite dagegen abgelehnt
wurden). Betrachtet man die Landkarten dieser Teilungspläne aus den 1930er-
und 1940er-Jahren oder auch den letzten UN-Teilungsplan von 1947, so
vermitteln die eigenartig gewundenen Grenzen, die engen Korridore und die
eingesprengselten britischen oder internationalen Enklaven den Eindruck von
zwei Erbfeinden, die in tödlicher Umarmung ineinander verschlungen sind.
1948 gaben die Briten auf und zogen endgültig von dannen. Noch am selben Tag
riefen die Juden in ihrem Teil des Landes einen unabhängigen Staat aus, der
von den meisten Ländern und nach einer Weile sogar von den Briten anerkannt
wurde. Israel wurde damals von aller Welt bewundert, weil es den
gleichzeitigen Angriff der Armeen von drei arabischen Nachbarstaaten
erfolgreich zurückzuschlagen vermochte.
An der Spitze des neuen Staates standen nach wie vor die alten, besonnenen
Führungskräfte, die freilich immer älter wurden. Ihre praktische Denkweise
sorgte dafür, dass sie ihre Grenzen erkannten. Der Sieg ihrer improvisierten
Armee stieg ihnen nicht zu Kopf. Und in der Regel kannten sie durchaus den
Unterschied zwischen Macht und Gewalt. Dem damaligen Ministerpräsidenten
David Ben-Gurion hat man später vorgeworfen, er habe während des Krieges die
Tragödie der Palästinenser verschlimmert (mit verhängnisvollen langfristigen
Folgen), weil er seine Generäle ermächtigt habe, an die 100 000 unschuldige
Palästinenser aus ihren Dörfern und Städten zu vertreiben, nachdem bereits
fast 500 000 Menschen aus den Kampfgebieten geflohen und im Westjordanland
sowie in den arabischen Nachbarländern Zuflucht gesucht hatten.
Doch zumindest nach dem Krieg schlug Ben-Gurion eine Politik der
Zurückhaltung ein. Er widersetzte sich entschieden dem Drängen der forschen
jungen Generäle, auch noch das Westjordanland zu erobern, das etwa 22
Prozent des vormaligen Mandatsgebietes Palästina ausmacht und auch die
Altstadt von Jerusalem mit ihren heiligen Stätten umfasst. Das
Westjordanland wurde mit stillschweigendem Einverständnis des jüdischen
Staates von dem haschemitischen Königreich Jordanien annektiert. Israels
Ministerpräsident hoffte damals mit gutem Grund auf einen förmlichen
Friedensvertrag mit dem jordanischen König Abdullah, mit dem er während des
ganzes Krieges geheime Kontakte unterhalten hatte. Für Ben-Gurion war
Legitimität auch dann wichtiger als Territorium, wenn zu Letzterem die
Klagemauer und andere historische und heilige Stätten gehörten. Es war eine
bemerkenswerte Entscheidung, die sich am Vorbild der klügsten europäischen
Staatsmänner des 19. Jahrhunderts orientierte.
Gurions weise Zurückhaltung führte nicht zum Frieden, weil der jordanische
König von einem religiösen Fanatiker ermordet wurde; und doch zahlte sie
sich aus. Im Nachkriegseuropa war man sich der antisemitischen Vergangenheit
reumütig bewusst und von Schuldgefühlen geplagt. Zwanzig Jahre lang war die
Unterstützung Israels fast eine Frage der Pietät. Die
Waffenstillstandslinien von 1948 galten in den USA und in Europa - mit
Ausnahme Großbritanniens - als praktisch ebenso sakrosankt wie die
innereuropäische Nachkriegsgrenze zwischen West und Ost. Aufschlussreich ist
in diesem Zusammenhang der Vergleich, wie sich diese Länder zu den
De-facto-Grenzen nach 1948 und nach dem Krieg von 1967 verhalten haben.
Nicht einmal Stalin forderte nach 1949 - in seinen letzten, von
antisemitischer Paranoia geprägten Amtsjahren - den Rückzug Israels auf das
weitaus kleinere Territorium, das im ursprünglichen UN-Teilungsplan
vorgesehen war. Und auch Stalins Nachfolger im Kreml haben Derartiges nie
gefordert.
Die Zeit bis Mitte der 1960er-Jahre war die Epoche der Entkolonialisierung.
Stalin und seine Nachfolger begrüßten fast alle antikolonialen Bewegungen
(natürlich nur jenseits ihres ausgedehnten eurasischen Empires). Sie
beschimpften Israel als Lakaien des US-amerikanischen Kapitalismus, aber
nicht als Kolonialmacht. Viele der früheren Kolonialvölker, die damals ihre
Unabhängigkeit erlangten, pflegten enge Beziehungen zu Israel, obwohl sie
Siedlerstaaten wie Kenia, Südafrika oder Algerien verdammten. Auch die
äußerste Linke in Italien und Frankreich enthielt sich damals weitgehend
einer antiisraelischen Rhetorik, wiesie nach 1967 üblich wurde. Enrico
Berlinguer, der Führer der PCI, erklärte explizit, warum Israel ein
Sonderfall sei: In einer gerechten, rationalen Welt mochte es "sinnvoller"
und sogar "gerechter" gewesen sein, den Staat Israel etwa in Bayern oder in
Ostpreußen zu gründen (ein Gedanke, den einmal Lord Moyne, ein Minister in
Churchills Kriegskabinett, ins Spiel gebracht hatte). Aber leider, so
Berlinguer weiter, gehe es in der Welt nicht völlig rational zu.
Der Staat Israel wurde seinerzeit weitgehend anerkannt als das
unvermeidliche und sogar legitime Ergebnis eines Krieges, den die Juden
weder begonnen noch provoziert hatten. Vor allem sah man in Israel den
legitimen Zufluchtsort für Überlebende des Holocaust und heimatlos gewordene
Juden, die nicht nach Polen oder Deutschland hatten zurückkehren wollen.
Viele von ihnen wollten nach Israel und nur nach Israel. Die Rückführung der
mehr als 600 000 palästinensischen Flüchtlinge galt damals als überwiegend
humanitäre Aufgabe, nicht als Politikum. Ein Teil der Flüchtlinge war von
Israel vertrieben worden, doch die meisten waren einfach vorübergehend in
die arabischen Nachbarstaaten geflohen, wie es Dorfbewohner in umkämpften
Gebieten häufig tun. Von Israel wurde erwartet, dass es nach einem
Friedensschluss eine weitgehende Verantwortung für die Zukunft dieser
Flüchtlinge - in existenzieller wie in finanzieller Hinsicht - übernehmen
würde. Und das zu Recht, denn schließlich waren die Palästinenser nicht für
die Verbrechen Europas verantwortlich. Doch genau sie waren es, auf die am
Ende die Strafe für diese Verbrechen abgewälzt wurde.
Von den arabischen Nachbarländern erwartete man, dass sie einen Teil der
palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen und unterstützen würden. Denn im
Westen gab man diesen Ländern zumindest eine Mitverantwortung, weil sie den
Krieg 1948 mit dem Ziel, die Umsetzung der UN-Resolution zu verhindern,
begonnen hatten. Die USA, die Länder Europas und selbst die Sowjetunion
drängten die arabischen Länder, mit Israel auf der Grundlage des nach dem
Krieg entstandenen Status quo einen Friedensvertrag zu schließen.
*
Die große historische Wasserscheide war der Krieg von 1967. Er beendete ein
Jahrzehnt allmählicher Entspannung zwischen Israel und Ägypten und damit die
Hoffnung, der israelisch-arabische Konflikt könne wenigstens teilweise
beigelegt werden. (Obwohl der Suezkanal für israelische Schiffe gesperrt
blieb, konnten sie nach 1956 die Straße von Tiran am Ausgang des Roten
Meeres passieren. Der Handel mit dem Fernen Osten und die Öllieferungen aus
dem Iran wurden über Israels südlichste Hafenstadt Elath abgewickelt.) Im
Westen herrschte zunächst Begeisterung über den spektakulären Sieg der
Israelis in einem Krieg, der vor allem auf bizarre Fehleinschätzungen der
ägyptischen und der syrischen Führung zurückging, zum Teil aber auch auf die
tumben Ratschläge eines sowjetischen Diplomaten, der beide Länder zur
Bedrohung Israels ermutigt hatte (und der kurz darauf von der Bühne - und
womöglich im Gulag - verschwand). Damals ist es mir auf einer Party
passiert, dass der deutschen Militärattaché meine Hand packte, die er gar
nicht wieder loslassen wollte, und ergriffen beteuerte: "Genau so hätte es
unser Feldmarschall Rommel gemacht, wenn man ihm freie Hand gelassen hätte
…"
Heute wissen wir, dass der Sieg von 1967 ein Pyrrhussieg war. Dieser Krieg
hat nicht nur die strategische Position Israels in der Region verändert,
sondern mehr noch die Selbsteinschätzung der Israelis. Von Isaiah Berlin
stammt der Satz, Israel habe stets "mehr Geschichte als Geografie" gehabt.
Aber jetzt hatte es auf einmal beides. Es verfügte erstmals, zumindest in
der Theorie, über genügend Territorium, um ein Stück davon für einen Frieden
einzutauschen.
Ben-Gurion war der einzige führende Repräsentant, der sich der allgemeinen
Euphorie entgegenstellte und einen sofortigen - notfalls einseitigen -
Rückzug aus allen besetzten Gebieten vorschlug. Wie schon 1948 war er strikt
gegen jeden Versuch, das Westjordanland auf Dauer zu besetzen. Aber
Ben-Gurion war mittlerweile im Ruhestand. Seit seinem Austritt aus der
Arbeitspartei (1965, damals Mapai) war er politisch isoliert. Maßgeblichen
Einfluss in der Labour-Regierung hatte jetzt Yigal Allon, der 1948 als
junger General Ben-Gurion gedrängt hatte, die vollständige "Befreiung" (so
sein Wort) des gesamten Mandatsgebietes anzuordnen. Allons Hauptkonkurrent
um das Amt des Ministerpräsidenten (als Nachfolger von Levi Eschkol) war mit
Mosche Dajan ein weiterer Exgeneral. Der so genannte Allon-Plan sah
Siedlungen und territoriale Annexionen im Westjordanland vor. Den
Palästinensern wäre kaum mehr geblieben als zwei Enklaven in den Hügeln von
Samaria und Judäa, umzingelt von israelischen Militärbasen und Siedlungen.
Auch sollten sie kein Mitspracherecht über Jerusalem haben.
Der Allon-Plan entfaltete, je länger die politische Lage festgefahren blieb,
eine zunehmend expansive Logik, insofern immer mehr Territorium zur
Besiedlung und Annexion ausersehen wurde. Die Pläne Dajans waren
zwiespältiger und in ihren Auswirkungen weitaus ehrgeiziger. Er war der
erste nicht religiöse Spitzenpolitiker, dessen Rhetorik mit einer
suggestiven biblischen Bildersprache aufgeladen war. Dajan war der
vergötterte Sieger in einem glorreichen Krieg und eine Zeit lang vielleicht
der berühmteste Jude seit Jesus Christus. Und wenn ich mich nicht täusche,
war er es auch, der später veranlasste, dass der Krieg nach den sechs
Schöpfungstagen benannt wurde. Rechte Politiker und religiöse
Fundamentalisten beuteten den Sieg von 1967 bis zum äußersten für ihre
ideologischen Zwecke aus. Sie gaben dem "Sechstagekrieg" eine metaphysische,
ja pseudomessianische Aura und drängten auf die Annexion aller "befreiten
Gebiete". Damals waren sie allerdings noch eine relativ kleine Minderheit.
Die Konkurrenz der beiden säkularen Exgeneräle um das Amt des
Ministerpräsidenten war verheerend, ihre fatalen Folgen wirken bis in die
Gegenwart fort. Allon wie Dajan waren - selbst für Politiker - extrem
egozentrische Persönlichkeiten und somit blind für die Präsenz der
Palästinenser. Die Hoffnungen von über einer Million Palästinenser im
Westjordanland und im Gaza-Streifen waren für sie ein untergeordnetes
Problem. Sie hatten keinerlei Neigung, diesen Menschen die israelische
Staatsbürgerschaft zu gewähren. Etwa 300 000 Palästinenser lebten in Israel
und waren als Bürger zweiter Klasse entsprechend verbittert. 1967 belief
sich die Zahl der jüdischen Bürger auf 2,7 Millionen, die Zahl aller Araber
zwischen Mittelmeerküste und Jordan auf 1,3 Millionen. Es war demnach so,
als hätte Frankreich 1938 beschlossen, durch territoriale Ausdehnung 20
Millionen renitente, potenziell subversive Deutsche zu schlucken, während
jenseits der Grenzen über 100 Millionen schwer bewaffnete, feindlich
gesinnte Landsleute dieser inneren Minderheit lebten. Heute, 35 Jahre
später, leben 4,1 Millionen Palästinenser westlich des Jordans, davon 3,1
Millionen im Westjordanland und im Gaza-Streifen, und 1 Million
Palästinenser innerhalb der israelischen Grenzen. Und obwohl seit 1967 viele
Juden zugewandert sind, liegt ihre Zahl heute bei lediglich 5 Millionen, die
Relation zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung beträgt also
lediglich 1,2:1. Und die höhere Geburtenrate der Palästinenser wird dazu
führen, dass die Palästinenser in zehn bis fünfzehn Jahren die
Bevölkerungsmehrheit stellen werden.
Im Sommer 1967 erörterte das israelische Kabinett in selbst für israelische
Verhältnisse außergewöhnlich langen Sitzungen, was nun nach dem großen Sieg
zu tun sei. Die entscheidende Debatte, bei der es um den Status des
besetzten Westjordanlandes ging, begann Mitte Juni an einem Sonntag und zog
sich - von kurzen Essens- und Schlafpausen unterbrochen - bis zum
darauffolgenden Mittwoch hin. Am Ende entschied man sich, nicht zu
entscheiden. Dank dieses Vakuums konnten Dajan, mittlerweile ein nationaler
Halbgott, Allon und einige rechtsgerichtete und religiös-fundamentalistische
Aktivisten und Landbesetzer dazu übergehen, höchst zweifelhafte Fakten zu
schaffen: Siedlungen und so genannte heachsujot (Vorposten), zu denen im
Lauf der Jahre mittels offizieller und halboffizieller Regelungen ständig
neue hinzukamen. Die Landbesetzer erhielten so allmählich einen legalen
Status und großzügige Subventionen und wurden am Ende als nationale Helden
gefeiert. Jemand hat über das britische Empire gesagt, es verdanke seine
Entstehung einem kurzen Moment der Geistesabwesenheit. Die koloniale
Besitznahme des Westjordanlands durch Israel kam unter ähnlich nebulösen
Umständen zustande. Zunächst wurde die Sache nur von wenigen Leute ernst
genommen. Einige redeten sich ein, es gehe lediglich um eine zeitlich
begrenzte Maßnahme. Doch die verantwortlichen Politiker haben es konsequent
vorangetrieben, und nicht wenige Minister glaubten ernsthaft, man könne so
die Araber unter Druck setzen, sich möglichst bald auf einen Frieden
einzulassen, bevor die israelische Seite zu viele "unwiderrufliche" Fakten
geschaffen habe.
Der Minister für Wohnungsbau, der innerhalb der Labour-Regierung als Taube
galt und gegen das Siedlungsprojekt war - das er gleichwohl großzügig
subventionierte -, machte damals eine zynische Rechnung auf: Nach Aufgabe
der Siedlungen würden die USA für jedes umsonst ausgegebene israelische
Pfund einen Dollar Entschädigung zahlen. Die wenigen Bürger, die mit
politischen und demografischen Argumenten gegen die Siedlungen
protestierten, fanden kein Gehör. Gegen die sich herausbildende Koalition
aus religiösen und politischen Fundamentalisten hatten sie keine Chance. In
der Knesset wurde über das Projekt nie abgestimmt. Finanziert wurde es
anfangs vor allem über nichtstaatliche Agenturen wie den United Jewish
Appeal (UJA), die Jewish Agency und den Jewish National Fund (JNF). Die
US-Regierung rang sich zu einem sanften Protest gegen das Siedlungsprojekt
durch, unterließ jedoch alle rechtlichen oder andere möglichen Schritte. Sie
hätte zum Beispiel die steuerfreien Spenden an den UJA oder den UJN
unterbinden können. Das Kabinett der nationalen Einheit, das man 1967 am
Vorabend des Krieges eilends zusammengeschustert hatte, hielt sich noch
lange im Amt. Zunächst geführt vom schwachen Levi Eschkol, der kurz nach dem
Krieg starb, danach von der Hardlinerin Golda Meir, die für ihren
herablassenden Maternalismus berühmt war - und für den Ausspruch: "Wer sind
die Palästinenser? Ich bin eine Palästinenserin."
Die israelische Regierung ließ Washington wissen, man sei bereit, sich als
Gegenleistung für einen Frieden aus den besetzten Territorien Ägyptens und
Syriens zurückzuziehen. Einen Rückzug aus dem Westjordanland und dem
Gaza-Streifen hingegen schloss sie explizit aus. Bis heute gibt es keinerlei
Hinweis darauf, dass US-Diplomaten in Kairo oder in Damaskus die Möglichkeit
eines Vertrags auf der Basis eines israelischen Rückzugs sondiert hätten.
Und auch eine Recherche der New York Review of Books bei den US National
Archives unter Berufung auf den Freedom of Information Act brachte nicht ein
einziges Telegramm, keinen Bericht oder mündlichen Hinweis zum Vorschein,
der darauf hindeuten würde, dass Washington im Sommer 1967 einen
Friedensprozess in Gang zu bringen versuchte. Über die Gründe für dieses
Versäumnis kann man nur spekulieren. Nicht nur war die US-Regierung
offensichtlich ganz froh, dass Israel die wichtigsten Klienten der
Sowjetunion im Nahen Osten gedemütigt hatte, sie zeigte auch keine Eile, den
arabisch-israelischen Konflikt beizulegen. Der Krieg zwischen Israel und den
arabischen Staaten wurde zum Stellvertreterkonflikt - und zum Übungsfeld für
die Waffensysteme der beiden Supermächte. Dass der Suezkanal blockiert
blieb, kam Washington gerade recht. Der Vietnamkrieg war in vollem Gange und
die Johnson-Regierung hatte nichts dagegen, wenn sowjetische
Versorgungsschiffe für Nordvietnam gezwungen waren, die lange Route um
Afrika zu nehmen. Wenig später verkündeten die arabischen Staaten auf ihrem
Gipfeltreffen in Khartoum ihre "drei Neins": Nein zur Anerkennung, Nein zu
Verhandlungen und Nein zu einem Friedensabkommen mit Israel. Danach geschah
mehrere Jahre nichts. Mit einer gewissen Schadenfreude beschrieb ein
arabischer Israeli das israelische Dilemma mit folgendem Bild: "Statt die
Schlange, die sie bedrohte, totzutreten, haben sie sie verschluckt. Jetzt
müssen sie mit ihr leben - oder sterben."
Ein Dilemma ist per definitionem ein Konflikt zwischen zwei gleich
unerwünschten Alternativen. Stand Israel wirklich vor einem solchen
Konflikt? Das war nicht der Fall, wie wir heute wissen. Es gab sehr wohl
eine Chance für den Frieden - mit den Palästinensern im Sommer 1967, mit
Jordanien und Ägypten 1971 und 1972. Gleich nach dem Krieg von 1967 führten
zwei hohe israelische Geheimdienstler (einer war David Kimche, der später
Vizechef des Mossad und dann Staatssekretär im israelischen Außenministerium
wurde) Gespräche mit prominenten Führungspersönlichkeiten der Palästinenser
im gesamten Westjordanland: mit Intellektuellen, Notablen, Bürgermeistern
und religiösen Würdenträgern. Wie Kimche berichtet, zeigten sich die meisten
der Befragten bereit, im Westjordanland einen entmilitarisierten
Palästinenserstaat aufzubauen, der einen Separatfrieden mit Israel
unterzeichnen könnte. Zu der Zeit war die PLO noch eine weitgehend
marginalisierte Gruppe.
Der Kimche-Report wurde, soweit wir wissen, von Dajan ad acta gelegt. Dem
Kabinett hat er niemals vorgelegen. Doch in der Hybris der ersten Monate
nach dem gewonnenen Krieg wäre wohl selbst ein erster Versuch, diese
Möglichkeit auszuloten, vom israelischen Kabinett abgelehnt worden. Dajan
glaubte fest, so lange man die Eingeborenen freundlich und anständig
behandele - was anfangs der Fall war -, werde man den Status quo in den
besetzten Gebieten über Generationen aufrechterhalten können. Die
Palästinenser waren noch bemerkenswert fügsam; so hatten die Israelis das
Westjordanland binnen weniger Stunden erobern können, ohne einen einzigen
Schuss abzugeben. Dayan und mit ihm fast das gesamte politische und
militärische Establishment waren der Überzeugung, dass nicht nur die
Palästinenser, sondern auch Ägypten und Syrien auf Jahrzehnte hinaus keine
militärische Bedrohung darstellen würden. Bei einem Besuch in Vietnam soll
er auf die Frage von General Westmoreland, wie man einen Krieg gewinne,
geantwortet haben: "Vor allem muss man sich als Feind die Araber aussuchen."
Ein paar Wochen nach dem Krieg äußerte er mir gegenüber: "Westjordanland?
Das sind doch nur zwei kleine Städte."
Wir vergessen zuweilen, dass Spitzenpolitiker ein ganz anderes Leben führen
als wir normalen Bürger. In ihren Autoeskorten überfahren sie jede rote
Ampel, nicht selten sind sie sogar mit dem Hubschrauber unterwegs. Aus dem
Cockpit eines Hubschraubers betrachtet, mag das Westjordanland tatsächlich
nicht viel mehr sein als ein halbes Dutzend erbärmlich kleiner Städte. Wie
Dajan die Dinge sah, kam auch in einem anderen Interview zum Ausdruck. Auf
die Frage, wie Israel einen Frieden zu erreichen hoffe, antwortete er: Indem
wir eisenhart da stehen bleiben, wo wir heute stehen, bis die Araber zum
Nachgeben bereit sind.
Bis zum Jom-Kippur-Krieg von 1973 vertrat Dajan gegenüber Ägypten die
Position, dass es für Israel vorteilhafter sei, Scharm al-Scheich und die
halbe Sinai-Halbinsel zu haben statt einen Frieden mit Ägypten, ohne Scharm
al-Scheich zu behalten. Nach 1973 änderte sich seine Einstellung zu Ägypten,
und er war bereit, den besetzten Sinai aufzugeben. Was das Westjordanland
betrifft, blieb Dajan jedoch ein Annexionist. US-Außenminister Henry
Kissinger klagte damals, wann immer man sich bei den Israelis nach ihren
politischen Absichten für dieses besetzte Gebiet erkundige, erhalte man
einfach keine Antwort.
In Wahrheit wurden trotz des dreifachen Nein von Khartoum, schon bald nach
dem Krieg von 1967 direkte Verhandlungen mit Jordanien aufgenommen, ab 1970
sogar mit König Hussein persönlich. Noch als Golda Meir öffentlich
lamentierte, "wenn sich die Araber doch nur mit uns an einen Tisch setzen
und wie anständige Menschen mit uns reden würden", trafen ihre Abgesandten
heimlich mit dem König zusammen. Hussein steuerte sogar seinen eigenen
Hubschrauber nach Tel Aviv und ließ sich von Dajan zu einem Bummel durch das
Nachtleben ausführen. Der König war zum Frieden unter der Bedingung bereit,
dass sich Israel aus dem größten Teil des Westjordanlands und aus
Ost-Jerusalem zurückziehen und die muslimischen und christlichen heiligen
Stätten in der Altstadt wieder an Jordanien zurückfallen würden. Als
Gegenleistung war er bereit, den Israelis Zugeständnisse an den schmalsten
Stellen der Küstenebene und bezüglich der Klagemauer in der Altstadt von
Jerusalem zu machen.
Aber von diesem Angebot wollte Israel nichts wissen. Inzwischen hatte man
Jerusalem "für alle Zeiten" zur Hauptstadt Israels ausgerufen, nicht ohne
zuvor das Stadtgebiet auf das arabische Ost-Jerusalem, aber auch auf Teile
des früheren Westjordanlands auszudehnen. Auf diesem Territorium
Groß-Jerusalem wurden nun - auf dem enteigneten Grund und Boden von
Palästinensern - immer neue Siedlungen errichtet. Zudem hielt man an der
neuesten (noch expansiveren) Fassung des Allon-Plans fest. Das war
gleichbedeutend mit der Annexion des gesamten Jordantals zwischen dem See
Genezareth und dem Toten Meer, der dicht bevölkerten Region südlich von
Jerusalem bis Hebron sowie der Hänge des westlichen und nördlichen
Berglandes von Samaria im Norden. König Hussein ließ die Israelis wissen,
über derart weitreichende Konzessionen müssten sie mit der PLO verhandeln.
Im Rückblick ist es geradezu tragisch, dass damals kein Abkommen mit den
palästinensischen Führern im Westjordanland oder mit Jordanien zustande kam.
Denn vor 30 Jahren waren die Palästinenser noch nicht durch ein
Besatzungsregime radikalisiert, das sie zunehmend erniedrigte und ihnen
große Teile ihres Grund und Bodens wegnahm, die dann exklusiv von jüdischen
Siedlern genutzt wurden. Es existierten weder Hamas noch Hisbollah; die PLO
war noch keine international anerkannte Organisation. Hätte es damals ein
autonomes palästinensisches Staatsgebilde in friedlicher Koexistenz mit
Israel gegeben, wäre die PLO zwar nicht von der Bühne verschwunden, aber sie
hätte vielleicht sehr viel weniger Einfluss gehabt. Eine Friedensregelung
mit Jordanien hätte die Palästinenserfrage erneut, wie schon vor 1967, zu
einem vorwiegend innerjordanischen Problem gemacht.
*
Dass es damals zu keiner Friedensvereinbarung kam ist umso tragischer, als
die Zahl der Siedler noch relativ begrenzt war. Die nicht einmal 3 000 Leute
wären nicht wie heute imstande gewesen, ihr Veto gegen jeden Kompromiss
einzulegen. Inzwischen sind im Westjordanland und im Gaza-Streifen rund 200
000 Siedler ansässig, das sind doppelt so viele wie zum Zeitpunkt des
Oslo-Vertrags von 1993. Zählt man die 200 000 Menschen dazu, die auf ehemals
jordanischem Territorium in Ost-Jerusalem wohnen, so liegt die Gesamtzahl
der Siedler inzwischen bei 400 000. Und die Wohnkomplexe wachsen weiter. Man
stelle sich vor, was es für den Friedensprozess in Nordirland bedeuten
würde, wenn die britische Regierung laufend zu tausenden Protestanten aus
Schottland in Nordirland ansiedeln würde, subventioniert mit
Regierungsgeldern und auf Land, das man zuvor irischen Katholiken
weggenommen hat.
Aufs Ganze gesehen war die Besatzung ein Gewinn bringendes Unternehmen. Bis
zur ersten Intifada nach zwanzig Jahren war die Kostenrechnung mehr als
ausgeglichen. Zum einen musste die palästinensische Bevölkerung Steuern
zahlen, zum anderen entwickelten sich die besetzten Gebiet zwangsläufig zum
Absatzmarkt für israelische Produkte und Dienstleistungen. Michael Ben Jair,
Generalstaatsanwalt in der Regierung Rabin, schrieb kürzlich in Ha'aretz:
"Der Sechstagekrieg wurde uns aufgezwungen, aber der siebte Tag des Krieges,
der am 12. Juni 1967 anbrach, dauert bis heute an und resultiert aus unserer
eigenen Entscheidung. Mit Begeisterung sind wir zu einer
Kolonistengesellschaft geworden, die internationale Verträge missachtet,
Grund und Boden beschlagnahmt, Siedler aus Israel in die besetzten Gebiete
verbringt, Diebstahl begeht und für all das noch irgendwelche
Rechtfertigungen findet." Das sind harte Worte. Doch der tragische Wahnsinn,
den ich hier beschreibe, liegt darin begründet, dass Ben Jair solche
Ansichten nicht schon vor Jahren, zu seiner Zeit als Generalstaatsanwalt, in
einem offiziellen Memorandum zu Papier brachte.
Die Siedler sind im heutigen Israel die stärkste aller politischen
Interessengruppen. In den letzten Jahren wurden sie staatlicherseits
großzügig unterstützt: mit Subventionen, Landübertragungen und
Mietsubventionen, mit Regierungsposten, Steuererleichterungen und besonders
gut funktionierenden öffentlichen Dienstleistungen. Bis auf wenige Ausnahmen
haben die Siedlungen Israel nicht "sicherer" gemacht, wie zuweilen behauptet
wird. Im Gegenteil. Die Siedlungen machen heute teure Schutzmaßnahmen
erforderlich, denn sie liegen weit verstreut innerhalb von Gebieten mit
dichter palästinensischer Bevölkerung. Die unvermeidlichen Kontrollen,
Ausgangssperren und Gewaltmaßnahmen führen dazu, dass immer mehr
Palästinenser immer verbitterter reagieren, zumal sie ständig durch
unsensible oder undisziplinierte israelische Rekruten und Reservisten
gedemütigt werden.
Dafür zwei Beispiele: Ein komplettes Panzerregiment muss seit Jahren eine
kleine Kolonie von nationalistischen religiösen Fanatikern bewachen, die
sich in der Altstadt von Hebron, also in einer fundamentalistisch geprägten
muslimischen Umgebung angesiedelt haben. Und im Gaza-Streifen liegen einige
der fest etablierten, blühenden Siedlungen nur wenige hundert Meter von
riesigen Flüchtlingslagern entfernt, in denen die Flüchtlinge bereits in der
dritten und vierten Generation leben. Hier bietet sich dem Besucher ein
irres Kontrasterlebnis: binnen fünf Minuten legt er gleichsam die Strecke
von der südkalifornischen Suburbia nach Bangladesch zurück, vorbei an
Stacheldrahtverhauen, Wachtürmen, Suchscheinwerfern, Maschinengewehrnestern
und betonierten Straßensperren. Ein bizarrer Anblick, der kalte Angst
auslöst.
Voller Wut müssen die Palästinenser zudem mit ansehen, wie ihre Olivenhaine
abgeholzt oder von Siedlern niedergebrannt werden. Oder wie ihre
Wasserzapfstellen austrocknen und ihre alten Bodenrechte und kostbaren
Wasserressourcen konfisziert werden, damit die Siedler nebenan ihre
Swimmingpools füllen können. Jeder Siedler verbraucht im Durchschnitt etwa
fünfmal so viel Wasser wie ein Palästinenser. Obwohl bei Meinungsumfragen 70
Prozent der Israelis sagen, sie seien für die Aufgabe von Siedlungen,
kontrollieren die Siedler und ihre rechtsradikalen und orthodoxen Anhänger
heute mindestens die Hälfte der Wählerstimmen. Und sie können ständig mit
Bürgerkrieg drohen, falls man ihre Interessen nicht voll berücksichtigt. Den
Kern der Siedlerbewegung bilden fanatische Nationalisten und religiöse
Fundamentalisten, die genau zu wissen glauben, worüber sich Gott und Abraham
in der Bronzezeit unterhalten haben.
Die Siedler sind heute nicht mehr wie früher gesellschaftliche Außenseiter
oder illegale Landbesetzer. Viele von ihnen sind aus ganz pragmatischen
Gründen zu Siedlern geworden: Weil sie billigere Wohnungen suchten und in
einer angenehmeren Umgebung leben wollten, die dennoch für Pendler bequem zu
erreichen ist. Fast 25 Jahre lang wurden die Siedler von jeder israelischen
Regierung als Patrioten, gute Bürger und gute Zionisten gefeiert. Zumindest
im Westjordanland gilt das Siedlungsprogramm schon längst als Grundpfeiler
der zionistischen und israelischen Identität. Doch inzwischen gibt es eine
zweite Generation von Siedlern, die zwischen sich selbst und anderen
Israelis, die in Tel Aviv oder in Tiberias leben, gar keinen Unterschied
mehr sehen. Und diese Leute gehen seit dem Ausbruch der jüngsten Intifada
und dem Auftauchen von palästinensischen Selbstmordattentätern davon aus,
dass sie nicht nur eine Idee verteidigen, sondern auch: "die Heimat".
Die Folge ist, dass auf beiden Seiten inzwischen die Extremisten die
Oberhand haben, die in Israel wie in Palästina jeden Forschritt in Richtung
Frieden verhindern. Jeder Tag bringt eine neue Katastrophe, ein Ende ist
nicht in Sicht. Auf beiden Seiten haben offenbar die Extremisten die
nationale Sache usurpiert: auf palästinensischer Seite die Hamas, auf
israelischer Seite die Fanatiker der religiöse Rechten. Diese Entwicklung
ist umso tragischer, als dreißig Jahre nach dem ersten Friedensvorschlag
König Husseins von 1970 die Regierung Barak einen ähnlichen Friedensplan -
jedenfalls unter Vorbehalt - befürwortet hat. In Camp David wurde den
Palästinensern auf der - übrigens wohl einmalig schlecht vorbereiteten -
Friedenskonferenz von US-Präsident Clinton - und nicht von Barak selbst -
eine "Verhandlungsgrundlage" von mehreren Punkten vorgelegt, die einen
Palästinenserstaat vorsahen, in dem die Israelis 9 Prozent des besetzten
Westjordanlandes behalten durften. Arafat sah sich jedoch außerstande,
diesem Konzept zuzustimmen oder einen überzeugenden Gegenvorschlag zu
machen. Nach weiteren Geheimtreffen zwischen israelischen und
palästinensischen Diplomaten hat Clinton am 23. Dezember 2000 dann Arafat
die "Parameter" eines verbesserten Plans übermittelt, die das israelische
Kabinett akzeptiert hatte. Erst nach zehn Tagen übermittelte Arafat seine
Antwort, die Interesse an dem neuen Vorschlag ausdrückte, aber auch
Vorbehalte anmeldete. Vertreter beider Seiten trafen sich dann vom 21. bis
27. Januar 2001 im ägyptischen Taba. Mit eingem Erfolg, doch es war zu spät:
Clintons Amtszeit war abgelaufen und von Barak wussten alle, einschließlich
Arafats, dass er die bevorstehenden israelischen Wahlen verlieren würde.
*
Über die Gründe, warum Arafat nicht wenigstens die Grundzüge eines Abkommens
eindeutig akzeptiert hat, können wir nur spekulieren. Vielleicht dachte er,
die neue Bush-Administration würde ihm bessere Bedingungen anbieten. Oder er
hatte jede Hoffnung verloren, die besetzten Gebiete jemals auf dem Wege der
Diplomatie unter palästinensische Oberhoheit zu bringen. Vielleicht hoffte
er auch, Israel könnte durch den ständigen Einsatz von Gewaltmitteln zur
Aufgabe des Westjordanlands und des Gaza-Streifens gezwungen werden, so wie
kurz zuvor der Hisbollah-Terror die Israelis aus dem Südlibanon vertrieben
hatte. Womöglich zielte er auch immer noch auf eine Art Groß-Palästina, so
wie mächtige isarelische Gruppen seit langem ein Groß-Israel errichten
wollen, das vom Mittelmeer bis zum Jordan reicht. Scharon hatte lange vorher
verkündet, er sei für einen Palästinenserstaat, der östlich des Jordan, also
im heutigen Jordanien liege.
Arafat und seine Gefolgsleute haben sicher die Macht und Entschlossenheit
Israels wie auch ihre internationale Unterstützung gewaltig unterschätzt.
Gegen die These israelischer Hardliner, Arafat strebe mit aller Gewalt nach
einem Groß-Palästina, spricht allerdings, dass die Palästinenser in den
letzten sieben Jahren 3 Milliarden Dollar in touristische Anlagen investiert
haben. Diese Projekte machen Sinn eigentlich nur für einen
Palästinenserstaat, den Arafat häufig genug als sein Ziel benannt hat und
den Scharon zu verhindern entschlossen ist.
Die israelische Rechte geht davon aus, dass es mit den Palästinensern keinen
brauchbaren Kompromiss geben könne. Aber die fast 200 Siedlungen im
Westjordanland und im Gaza-Streifen und über 200 000 Siedler auf dem Gebiet
von Ost-Jerusalem sind ein latent höchst explosives Potenzial, das jeden
denkbaren historischen Kompromiss verhindern kann. Wie viel leichter wäre es
heute, wenn Israel sich in etwa auf die Grenzen von 1967 beschränken würde
(die es dem Land immerhin erlaubt haben, innerhalb von sechs Tagen drei
arabische Länder zu besiegen).
Stattdessen versucht die Scharon-Regierung heute, aus vorwiegend
innenpolitischen Gründen entlang dieser Grenzlinie hohe Mauern zu errichten
und zahllose weitere Mauern um jede Siedlung und um jede palästinensische
Stadt herum. Entlang den Straßen, die zu jeder dieser Siedlungen führen,
lässt die Regierung regelmäßig Panzer und Kampfhubschrauber patrouillieren.
Dennoch: Israel erleidet schwere Verluste, muss Reservisten einberufen und
eine riesige Streitmacht in Jerusalem stationiert halten, um
Selbstmordattentäter davon abzuhalten, in jüdische Wohnviertel einzudringen.
In Israel wie in Palästina ist die politische Mitte weggebrochen. Die
vielfach erörterte "Zwei-Staaten-Lösung" ist vielleicht nicht mehr machbar,
seit beiden Parteien jegliches Vertrauen in die andere Seite abhanden
gekommen ist. Im Namen von Groß-Israel und Groß-Palästina blockieren die
Extremisten jeden politischen Fortschritt. Ich benutze die Begriffe
"Groß-Israel" und "Groß-Palästina" hier bewusst und mit großer Bitterkeit.
Denn zu welchen Katastrophen ähnliche "Groß"-Projekte anderswo geführt
haben, wissen wir von den Beispielen "Groß-Serbien" und "Groß-Bulgarien",
dem "Groß-Kroatien" der Ustascha und der megali idea der Griechen.
Was meint Ariel Scharon, wenn er von dem Ziel spricht, die "Infrastruktur"
des Terrors zu zerstören? Denn wir sprechen ja in Wahrheit nicht von
irgendeiner Garage oder Werkstatt, wo die Gürtel mit Sprengstoff und
Stahlnägeln präpariert oder die Eigenbaugranaten gebastelt werden. Die wahre
Infrastruktur ist viel gefährlicher und besteht aus zwei Elementen: der
wachsenden Bereitschaft verbitterter junger Männer und Frauen, sich selbst
in die Luft zu sprengen, und der religiösen und politischen Kultur in 21
arabischen Staaten, wo diese Selbstmordattentäter als Märtyrer gefeiert
werden. Wie auch immer der Krieg im Irak ausgehen wird, so viel ist sicher:
Er wird die "Infrastruktur" verbreitern und vertiefen - eine diffuse
"Infrastruktur", die selbst von der mächtigsten Luftwaffe nicht zu
vernichten ist. Die Amerikaner haben Afghanistan besiegt, aber al-Qaida ist
nicht "zerstört".
Das enorme Siedlungsprojekt nach 1967 war nicht nur ein großes Unrecht,
sondern es war auch selbstzerstörerisch und politisch ruinös. Es könnte
sogar, ich wage gar nicht daran zu denken, zu einem Zustand führen, der
weitaus schlimmer ist, als was wir derzeit erleben.
deutsch von Niels Kadritzke
Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe
Le Monde diplomatique Nr. 7028 vom 11.4.2003, Seite 12-13, AMOS ELON, nur in
der deutschsprachigen Ausgabe
hagalil.com 11-04-2003 |