Jüdisches Leben in EuropaMit der Hilfe des Himmels

Promises - endlich auf Video!


 

Ein E-Mailwechsel:
Shalom und Salam

[ Funkhaus Europa ]

Igal AvidanQuelle: wdr5.de/funkhauseuropa

Mustafa Isaid ist palästinensischer Journalist, Igal Avidan sein Berufskollege aus Israel - sie leben in Deutschland. Beide leiden darunter, dass es keinen Frieden gibt im Nahen Osten.
In ihren E-Mails geben sie einen Einblick in ihre Gedanken zu Krise und Krieg. Und machen es damit für uns ein wenig fassbarer, warum für Israelis und Palästinenser ein friedliches Zusammenleben so schwer zu erreichen ist.


Berlin,den 29.4.2002
Von: Igal Avidan, Berlin
An: Mustafa Isaid, Köln


Shalom Mustafa

Ich bin enttäuscht, wütend und hilflos zu sehen, wie der Nahostkonflikt auf Deutschland überschwappt. Nicht nur werden in Berlin Juden von Palästinensern angegriffen, sondern werden Israelis immer mehr zu Sündenböcken der deutschen Schuld an dem Holocaust gemacht. Jeder Deutsche hat eine feste Meinung zu Israel und den Palästinensern, aber nur wenige hier kennen die Fakten. Noch schlimmer ist, dass sowohl viele Palästinenser als auch viele Juden in Deutschland völlig unfähig sind, Selbstkritik zu äußern. Die Parole lautet: Es herrscht zur Zeit Krieg und wer nicht 100% auf unserer Seite steht, ist unser Feind. Und in diesem Krieg sehen sich alle als Opfer: Palästinenser, Israelis, Juden und sogar Deutsche, die gerne es wieder „den Israelis und den allmächtigen amerikanischen Juden" zeigen würden, ohne in den Verdacht zu kommen, antisemitisch zu sein.

Igal Avidan
Zu deinen Fragen: Die israelische Armee behauptet, dass viele Häuser, Autos und sogar Kühlschränke im Flüchtlingslager Jenin vermint wurden. Mit dieser Begründung versperrten sie Journalisten und Menschenrechtlern tagelang den Zugang. Ich möchte glauben, dass die Armee keine Gräueltaten begangen hat, auch wenn aus diesem Flüchtlingslager 23 Selbstmordattentäter entstammen, die Hunderte unschuldiger Menschen, darunter Friedensaktivisten, in den Tod gerissen haben. Hoffentlich wird eine UN-Kommission die Wahrheit ans Licht bringen und keine Kriegsverbrechen feststellen.

Ein israelischer Kollege, der dieses Lager nach Ende der Kämpfe besichtigte, sagte mir am Mittwoch: „Ich fühlte mich als Mensch und Israeli sehr schlecht angesichts dieses Elends. Andererseits habe ich in Jenin mit eigenen Augen gesehen, wie palästinensische Scharfschützen aus bewohnten Wohnungen auf uns schießen und wie sie Kinder und Greise als menschliche Schutzschilder missbrauchen." Der Kollege betonte jedoch, dass die massive Zerstörung hätte verhindert werden könnte, wenn sich die bewaffneten Palästinenser, wie in allen anderen Städten, ergeben hätten. Die Häuser wurden plattgemacht, nachdem die Kämpfer sich geweigert hatten.

Der Krieg macht auch manche Palästinenser unmenschlich. Wir haben alle die Bilder aus Ramallah gesehen, wie vermummte Palästinenser ihre eigenen Brüder vor einer Massenansammlung erschießen und den vermeintlichen Kollaborateuren jede medizinische Hilfe verweigern. Auf einer Podiumsdiskussion in Kiel dieser Woche war der offizielle palästinensische Vertreter nicht bereit, nur ein Wort von Selbstkritik zu äußern und ignorierte alle Fragen dazu, einschließlich die theoretische, aber wichtige Frage, was er heutzutage als Israeli machen würde. Kein einziges Wort von Mitleid hatte er für die israelischen Opfer. Aber was mich besonders verärgerte war, dass er immer wieder vom "israelischen Volk" sprach. Es gibt kein israelisches Volk, es gibt ein jüdisches Volk. Und für viele Juden weltweit stand der Tempel auf dem Tempelberg. Wie würden Sie sich fühlen, wenn ich behaupten würde, es gäbe kein palästinensisches Volk, und diese Menschen seien nur Araber aus Syrien und Jordanien, die in Folge der zionistischen Einwanderung aus ökonomischen Gründen nach Palästina einwanderten?

Immer wieder fordern mich Palästinenser in Deutschland dazu auf, ihre Seite anzunehmen und gemeinsam gegen "den Verbrecher Sharon" zu Felde zu ziehen. Meine Kritik an dem neuen israelische Siedlungsprojekt, das eine zionistische Antwort auf den Terror sein soll, äußere ich laut und klar, aber nicht im Auftrag oder im Dienste der palästinensischen Propaganda, sondern im Dienste eines moralischen und demokratischen Israels. Ich habe leider noch keinen Palästinenser gesehen, der zum Sturz des korrupten Regime Arafats ausruft, der mit seiner Duldung des Terrors und der Unterdrückung der Menschenrechte sein eigenes Volk ins Elend treibt. Vielleicht erwarte ich zu viel von Menschen, die nicht wie ich in einer Demokratie leben. Ein israelisch-palästinensischer Dialog macht aber nur dann Sinn, wenn er offen und selbstkritisch geführt wird, wenn beide Seiten das Leiden des jeweils anderen begreifen und daraus eine Strategie entwickeln, die Friedenskräfte zu stärken.

Weißt Du, Mustafa, dass Israelis mit Anschlägen bei Beerdigungen rechnen und daher die Trauergäste am offenen Grab argwöhnische Blicke um sich werfen müssen? Eine israelische Bekannte, die seit Jahren für Menschenrechtsorganisationen tätig ist, Workshops zu diesem Thema für Polizisten und Grenzschützer führt und sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten und auch gegen Sharon und seine militärische Offensive öffentlich ausspricht, lebt in absoluter Angst, von Palästinensern ermordet zu werden. "Aufgrund dieser Angst verschließen wir uns in der Wohnung und lassen auch unsere Träume von einer moralischen und humanen israelischen Gesellschaft sterben," schrieb sie mir dieser Woche. "Ich möchte, dass Palästinenser wissen sollen, wie sehr uns diese existenzielle Angst lähmt." Ein enger israelischer Freund schreibt: "Ich bin immer noch ein moderater Linker, aber ich würde am liebsten die Araber eliminieren. Da dies nicht geht, müssen wir durch Jerusalem eine riesige Mauer mit Minenfeldern und Maschinengewehren ziehen, um damit jede Verbindung mit den "Hunden" (er meint Palästinenser) zu verbieten. Aber vor diesem Rückzug soll vereinbart werden, dass danach europäische Soldaten die Juden mit ihrem eigenen Leben verteidigen werden. So eine Trennung wird die Ruhe zwischen beiden Völkern wiederherstellen, aber nur wenn wir zuvor den Terror besiegen."

Ich teile diese aggressive und menschenverachtende Haltung nicht, möchte durch dieses Zitat nur klarmachen, dass auch linke Israelis, die zum Rückzug und zur Auflösung von Siedlungen bereit sind, zur Zeit um ihr Leben bangen und glauben, sie kämpften um ihre Existenz. Kein Wunder, dass sie diesen Kampf gewinnen wollen und daher jede Kritik an Sharon als Verrat geißeln.
Es ist deine Aufgabe und die Verpflichtung friedenswilliger Palästinenser, diese existenziellen Ängste zu zerstreuen, zum Beispiel durch eine klare Distanzierung von Gewalttätern und durch eine Anerkennung Israels als Heimat aller Juden. Denn nur wenn die Israelis glauben, dass der Westen sie nicht ausliefert, so wie im Holocaust, werden sie ihre „Massada-Mentalität" abgeben. Erst dann wird eine israelische Regierung in der Lage sein, die saudi-arabische Initiative aufzugreifen, Siedlungen zu evakuieren und dem Elend der palästinensischen Flüchtlinge ein Ende zu setzen. Die Alternative ist eine Katastrophe und ein Krieg, der sich auch auf Deutschland erweitern wird.


Köln, den 16.4.2002
Von: Mustafa Isaid
Köln
An: Igal Avidan
Berlin


Salam aleik Igal,
Vor einigen Tagen rief ich eine Freundin und Kollegin in der Westbank an, um Einzelheiten über die Situation vor Ort zu erfahren. Sie arbeitet in Palästina für einen arabischen Fernsehsender und hat viele Schwierigkeiten ihren Job zu machen, weil die israelische Armee die den größten Teil der besetzten Gebiete zu militärischen Sperrzonen erklärt hat. Ihre Stimme klang noch trauriger als in ihren Berichten, die ich via Satellit hier empfange. Weder Journalisten noch Menschenrechtsorganisationen durften sich von den Geschehnissen in den Flüchtlingslager von Jenin oder in der Altstadt von Nablus ein Bild machen, geschweige denn helfen oder gar Verletzte oder Tote transportieren. Nicht nur meine Kollegin vermutet, dass die israelische Armee in über 10 Tagen der Belagerung und Bombardements regelrechte Massaker in dem Flüchtlingslager und Nablus anrichtete. Dass sie dabei ist die Spuren zu verwischen, sagen palästinensische und israelische Menschenrechtsaktivisten gleichermaßen. Erste Zählungen gehen von 320 Tote in Jenin und 120 in Nablus aus. Die absolute Mehrheit der Opfer sind palästinensische Zivilisten.

Mustafa Isaid
Razan, eine weitere Freundin, die in Wien studierte und jetzt in Amman lebt, schrieb per E-Mail von einem dramatischen Anruf ihres Cousins aus Nablus, der mit der gesamten Familie (13 Personen ) aus dem Haus getrieben worden war. Sie standen hilflos und halbnackt den israelischen Panzern gegenüber und fürchteten um ihr Leben. Razan forderte im Internet alle Freunde zu einer Solidaritätsgeste, zu einem SCHREI auf. Sie weiß bis heute nicht was mit ihren Verwandten geschah, nachdem die palästinensische Telefongesellschaft ausgeschaltet war und der Kontakt mit ihnen abbrach.

Dass die erste Selbstmordattentäterin nach der Zerstörung des Flüchtlingslagers Jenin aus dem Lager selbst stammt und dass sie 6 Israelis mit in den Tod riss, muss uns allen zu denken geben. Die Politik Scharons, Sicherheit für Israel auf Kosten von Leben und Sicherheit der Palästinenser zu erreichen, ist endgültig gescheitert. Auf die Frage, wie solche jungen Frauen und Männer dazu kommen, sich für die palästinensische Sache in die Luft zu sprengen, erwiderte meine Kollegin aus Ramallah, dass Scharon, derjenige sei, der denen die Motivation liefert. Aus der Verzweiflung und dem Elend unter der israelischen Besatzung und aus der Ungleichheit der Mittel zwischen einem weitgehendst unbewaffnetem Volk und einer bis auf die Zähne bewaffneter Armee wachsen die Selbstmordattentäter.

Wir Palästinenser täten gut daran solche Taten gegen Zivilisten zu stoppen, um Leben auf beiden Seiten zu schonen. Nur Arafat und eine wieder aufzubauende Sicherheitsstruktur könnten keine hundertprozentige Sicherheit garantieren ohne eine politische Lösung.
Die Welt, die gerne auf die Erfüllung palästinensischer Verpflichtungen achtet und weiterhin achten soll, muss sich selbst verpflichten Druck auf Israel auszuüben, um seine Besatzung palästinensischen Gebietes zu beenden. Da liegt die Wurzel aller Gewalt. Die Besatzung ist ein tagtäglicher terroristischer Staasakt Israels gegen 3,2 Millionen Palästinenser.

Israel darf nicht weiterhin ungestraft Mahnungen und Forderungen der Weltgemeinschaft ignorieren und das Völkerrecht brechen. Der UN-Sicherheitsrat hat Israel zum Rückzug aus den palästinensischen Städten aufgefordert. Die Europäische Union forderte das Gleiche und die Un-Menschenrechtskommission in Genf ermahnte Israel, die Menschenrechte zu respektieren. Und was geschieht?
Nichts ! Findest Du es nicht merkwürdig, dass ein Staat, der von der UNO 1947 seine Berechtigung bekam, seitdem keinen einzigen Beschluss dieser Weltorganisation befolgt?

"Die Hilflosigkeit ist ein tödlicher Luxus für uns Palästinenser." Das sagte Viola Raheb, eine Friedensaktivistin aus der belagerten Stadt Bethlehem, bei ihrem Besuch in der Partnerstadt Köln vor einer Woche.
Es ist allerdings nicht so aussichtslos wie Viola Raheb es sieht. Deutschland und Großbritannien verschieben die Auslieferung von Bauteilen für die israelischen Merkava-Panzer, das europäische Parlament fordert wirtschaftliche Sanktionen gegen Israel und Hunderttausende gehen auf die Straßen Europas und Deutschlands, um gegen den israelischen Krieg zu protestieren.

Israelische Friedensgruppen in Jerusalem und Tel Aviv fordern die Rückgabe der besetzten Gebiete von 1967 ( Westbank und Gazastreifen ), französische Juden verurteilten vor 10 Tagen Scharons Politik und Rabbis for Human Rights erklärten ähnliches in Deutschland. Wenn die Mehrheit der Israelis ähnlich denken würde, gäbe es kein Hindernis für eine tiefe Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern. Wir könnten nebeneinander und gemeinsam in dieser schönen Region leben. Die israelischen Journalisten Amira Hass (Haaretz) und Amos Wollin (früher taz) betrachte ich als Freunde, aber ehrlich, Igal, wie weit ist die israelische Gesellschaft von solchen Vorbildern entfernt? Haben nicht etwa Zweidrittel der Israelis der Politik Scharons ihre Zustimmung gegeben?
Sollten wir nicht zuerst dafür sorgen, dass die Ursachen der Feindschaft geklärt und beseitigt werden? Ist das nicht der Weg zum Frieden und Sicherheit? Lenkt das nicht ab, wenn Du die Selbstmordattentate als Grund anführst, und Scharons Einmarsch als Reaktion darstellst? Verwechselst Du da nicht Ursache und Wirkung?

Auch wenn die Lage so verfahren und unverständlich für manche hier in Deutschland erscheint, wissen wir beide, dass es eine Lösung gibt. In dem Punkt sind wir uns einig. Aber Israel besetzt fremdes Land und es ist Israel, das sich da zurückziehen muss. So könnten die Israelis ihren Anspruch auf Sicherheit verwirklichen und die Palästinenser könnten frei und unabhängig leben.

Dann könnte ich wieder die erfrischende Stimme meiner Kollegin aus Ramallah am Telefon hören. Sie war eine der ersten Moderatorinnen des palästinensischen Radios 1994 und voller Hoffnung. Sie wollte mit einem Haufen Idealisten den palästinensischen Staat aufbauen. Dass die Demokratie da nicht auf Anhieb funktionierte, war denen ein Hindernis, aber viel mehr waren es die Schikanen an den Kontrollpunkten der israelischen Armee und die Weigerung der Regierungen Israels unter Netanjahu, Barak und Scharon den fälligen Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen zu vollziehen. Und jetzt ist Scharon dabei das Wenige, was erreicht wurde seit Oslo zu zerstören. Der Graben zwischen beiden Völkern wird tiefer und das Vertrauen der Palästinenser in ein zukünftiges Projekt Frieden wird nicht groß sein.

Du und ich, zusammen mit vielen Israelis, Palästinensern, Deutschen und anderen friedliebenden Menschen dürfen Scharon nicht gewähren lassen.
Er mordet, Peres lügt für ihn und die USA halten die Hand über ihn. Wie lange noch?
Mustafa Isaid, Köln


03.04.2002
Von: Igal Avidan, Berlin
An: Mustafa Isaid, Köln
Shalom Mustafa,

Während ich Dir schreibe, füllt sich täglich das Blutbad unserer beiden Völker. Und abgesehen von den Selbstmordattentätern werden unschuldige Menschen zu Grabe getragen. Wie in einem bösen Spiel taucht immer dann ein palästinensischer Fanatiker auf, wenn der Hauch einer Verständigung zu spüren ist. So wurden am Abend des Pessach-Festes im Park-Hotel in Netanya 22 Israelis ermordet. So wurden am Sonntag im "Matza"-Restaurant in Haifa 15 Menschen umgebracht, darunter ein arabischer Mitarbeiter dieses von arabischen Israelis betriebenen Lokals. Die aufgebrachte arabische Familie wusste noch nicht, dass der 23-jährige Mörder einen israelischen Personalausweis besass und daher an den zahlreichen Checkpoints der Armee ungehindert vorbei fahren konnte. Diesen Ausweis erhielt der in der Westbank lebende Schahadi Toubassi, weil er eine israelische Araberin geheiratet hatte: Im Rahmen dieser Familienzusammenführungen sind in den vergangenen Jahren 23.000 ähnliche Anträge eingegangen und viele von ihnen wurden positiv beantwortet. Das Rückkehrrecht durch die Hintertür für Palästinenser ist nicht ungefährlich - sowohl für jüdische als auch für arabische Israelis.
Das Massaker von Haifa darf das Massaker von Netanya nicht in Vergessenheit drängen, nicht nur weil jedes Menschenleben heilig ist. Der Anschlag auf das Park-Hotel, bei dem 22 Gäste am traditionellen Seder-Abend ermordet und über 100 verletzt wurden, hat auch verherende Konsequenzen für über drei Millionen Palästinenser, die nun abgesperrt und von der Armee erniedrigt werden. In den Ruinen des Hotels platzten die Träume von israelischer Sicherheit wie auch die Träume von palästinensischer Unabhängigkeit. Beide Völker teilen nur eines in diesen blutigen Tagen: Sie werden vom Terror zu Geiseln gemacht.
Gerade deshalb müssen wir einen ehrlichen und mutigen Dialog miteinander führen, der hoffentlich vielen Israelis und Palästinensern die Augen und die Herzen öffnet und ihnen den Glauben an den Frieden zurück gibt. Warum ist ein friedliches Zusammenleben für Israelis und Palästinenser so schwer? Ich will es Dir sagen: Weil sie kaum in der Lage sind, Mitgefühl für das Leiden des anderen aufzubringen, denn ihr eigenes Leiden verblendet sie. Auf deine Fragen: Selbstverständlich weiß ich, dass die meisten Palästinenser in Elend leben. Natürlich unterstütze ich die Gründung eines demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staates. Ohne Zweifel verurteile ich die illegale Landeinnahme für die Erweiterung der Siedlungen. Aber weißt Du, wer die beste PR-Arbeit für diese Siedler zur Zeit leistet? Palästinensische Terroristen, die keinen Unterschied zwischen Hebron und Tel Aviv, zwischen Soldaten und Zivilisten machen wollen. Mit jedem Mordakt bringen sie Benjamin Netanjahu näher an die Macht. Ist das ein Beitrag für den Frieden?
Die Fronten in diesem verrückten Krieg verlaufen nicht zwischen Israelis und Palästinensern, sondern zwischen den Fanatikern und den Gemäßigten beider Völker. Aber mit jedem Opfer wächst die Zahl der Hardliner, nimmt die Zahl der Kompromissbereiten stets ab. Und ob der Selbstmordattentäter sich für die politische Einstellung seines Opfers interessiert?
Im Grunde wissen wir, mehr oder weniger, wie das Endabkommen aussehen wird: Zwei Staaten, die gemeinsame Hauptstadt Jerusalem, die Räumung von Siedlungen, den Austausch von Gebieten und die Entschädigung der palästinensischen und der jüdischen Flüchtlinge, die nach 1948 ihre Heimatländer verlassen mußten: die einen Palästina, die anderen den Irak oder Jemen. Die palästinensischen Flüchtlinge können nicht nach Israel zurückkehren, weil wir nicht eine jüdische Minderheit im eigenen Staat sein wollen. Die arabischen Staaten, vor allem Ägypten und Jordanien, die eine Mitschuld für das Flüchtlingsproblem tragen, weil sie den jungen Staat Israel 1948 angriffen und die palästinensischen Truppen entwaffneten (auch Arafat selbst), sollen nun auch die palästinensishen Flüchtlinge unterstützen.
Das mag zur Zeit sehr arrogant klingen, aber die Israelis könnten die besten Freunde der Palästinenser sein. Die israelische Friedensaktivistin Neta Golan besuchte Arafat in seinem umzingelten Hauptquartier, rund 1.000 Israelis riefen die UN auf, die israelische Militäraktion in Ramallah zu beenden. Zum ersten Mal demonstrierten Kriegsdienstverweigerer vor dem Amt des Ministerpräsidenten. Die israelische Journalisten Amira Hass und Gideon Levy setzen ihr Leben in Gefahr, um aus Ramallah und Gaza über das Leiden der Palästinenser zu berichten.
Es wäre naiv zu erwarten, dass friedensliebende Palästinenser ihre Stimme gegen die eigenen Fanatiker und gegen Arafat erheben oder Kondolenzbriefe an die israelischen Opfer der Anschläge schicken. Sie wollen keinen Kontakt mit Israelis, denn sie fürchten, als Verräter von ihren eigenen Extremisten umgebracht zu werden. Nicht jeder ist so mutig wie Prof. Sari Nusseiba, der Präsident der palästinensischen Al-Qouts-Universität, der öffentlich auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge verzichtete.
Ohne die Intifada hätten die meisten Israelis nicht begriffen, dass durch den Oslo-Prozess das Leben der meisten Palästinenser, besonders ihre Bewegungsfreiheit, sich nur verschlechterte. Aber inzwischen wirkt die mörderische Gewalt nicht nur gegen die Israelis, sondern auch gegen eine palästinensische Unabhängigkeit.
Igal Avidan, Berlin

12.3.2002
Von: Igal Avidan
Berlin
An: Mustafa Isaid
Köln


Shalom Mustafa,
"Wenn du nichts sehr Dringendes zu erledigen hast, komm nach Israel erst mal lieber nicht," sagte mir meine Mutter vor einigen Tagen. "Denn niemand weiß, wo es demnächst passieren könnte." Knallen, wollte sie sagen, traute sich aber wahrscheinlich nicht. Wenn sie die Bombenanschläge schon nicht von ihren Straßen verbannen können, dann zumindest aus ihrer Sprache. Meine ein- und zweijährigen Neffen haben in diesem Jahr den Purim-Karnevalszug nur im Fernsehen erlebt. Zu gefährlich war es, dort hinzugehen. In einigen Städten wurden diese Feierlichkeiten ohnehin abgesagt, was die Eltern davon befreit, ihren kleinen Kindern ein Referat zum Thema Terrorismus zu halten.
Plötzlich denkt mein Freund in Israel über strategische Fragen nach, wenn er zum Einkaufen geht. Einerseits freut er sich darüber, dass das Shoppingzentrum in der Stadt Kfar Saba nicht hermetisch abgeschlossen ist, denn wenn sich dort ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt, wird der Knall weniger verheerend sein. Andererseits ist es für den Attentäter leichter hinein zu kommen. Mein Freund fühlt sich nicht besonders bedroht, auch nach dem tödlichen Anschlag letzten Sonntag, weil er entweder zu Hause arbeitet oder zum Sportzentrum geht, wo er neben einigen arabischen Israelis Gewichte stemmt und sogar unter die Dusche geht. Er glaubt fest daran, in den Augen eines Menschen den Terroristen erkennen zu können, so wie der israelische Busfahrer, der Anfang des Monats einen palästinensischen Fahrgast mit einem Fußtritt aus dem Bus hinauswarf und sofort losfuhr. Der Fahrgast sprengte nur sich selbst in die Luft, aber sicherlich nicht, weil er so schlecht bedient wurde.
Warum muss meine Familie und müssen meine Freunde um ihr Leben bangen, nur weil Sharon in Arafat den Erzfeind sieht? Warum dürfen meine jungen Neffen nicht zum Karneval in Tel Aviv gehen, nur weil diese zwei alten Politiker alte Rechnungen aus Beirut 1982 begleichen wollen? Die meisten meiner Freunde unterstützen ohnehin die Gründung eines Palästinenserstaates, manche auch die Räumung der jüdischen Siedlungen. Interessiert sich der nächste palästinensische Selbstmordattentäter für solche Details?
Der palästinensische Hass gegen alle Israelis schockiert mich und macht mich sehr traurig. Junge Araber schleuderten Brandsätze gegen die Synagoge in Düsseldorf und warfen Steine auf das jüdische Gotteshaus in Aachen und vielleicht auf den jüdischen Friedhof in Berlin. Sogar meine arabisch-israelischen Freunde dort wurden zuletzt von Arabern als "fast Juden" beschimpft, nur weil sie israelische Staatsbürger sind. Sind die Menschen verrückt geworden? Warum sind die meisten Prediger und Lehrer in diesen schweren Zeiten verstummt, statt zur Vernunft und zum Dialog auszurufen?
Und wie üblich im turbulenten Nahen Osten, taucht wieder der Schimmer einer Hoffnung im Horizont auf. Der saudische Prinz Abdullah bietet eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Arabern und Israelis an wenn sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückziehe. Kann ich also eine Flugkarte nach Beirut oder Damaskus schon reservieren? Sind noch freie Plätze für Pilger nach Mekka? Oder ist das Ganze nur eine Fata Morgana, die beim nächsten Opfer - egal ob Palästinenser oder Israeli - verpuffen wird?

Igal Avidan, Berlin



Köln, den 14.3.2002
Von: Mustafa Isaid
Köln
An: Igal Avidan
Berlin


Lieber Igal,
Marhaba und Salam alaik.
Viele ernst zunehmenden Fragen hast Du da aufgeworfen, und befriedigend beantwortet werden können sie nur durch einen gerechten Frieden in der Region, der ist aber - leider - nach jetzigen Gegebenheiten noch meilenweit entfernt.
Dennoch würden palästinensische Kinder und Erwachsene in der Westbank und im Gazastreifen ihre israelischen Gegenüber um einige dieser Fragen beneiden. Ob Karnevalszug oder Shoppingzentrum - das ist nicht Teil einer Realität der Palästinenser. Auch die Fragen nach dem gestörten Sicherheitsgefühl deiner Freunde und vieler Israelis im Alltag werden angesichts der andauernden israelischen Besatzung und der gänzlich fehlenden Sicherheit für Palästinenser von existentiellen Fragen überlagert: to be or not to be! Es geht um das nackte Überleben.
In ihren Städten, Flüchtlingslagern und Dörfern, die von Panzern umzingelt und von F16 - Bombern und Apache-Helikoptern Tag und Nacht angegriffen werden, fragen die Palästinenser: Wann werden wir frei sein? Können wir eines Tages in Würde über unser Schicksal selbst bestimmen? Werden wir einen eigenen Staat aufbauen können?
Man redet sich die Köpfe heiß über die Belagerung Arafats in Ramallah. Weiß man aber, dass mehr als 3 Millionen Palästinenser in der Westbank und Gazastreifen in einem großen Gefängnis, hundertfach durch illegale Siedlungen und bewaffnete Siedler unterteilt, leben? Einige meiner Freunde in Gaza können seit eineinhalb Jahren weder studieren noch an der Bir-Zeit-Uni nahe Ramallah unterrichten, weil sie keinen Passierschein bekommen. Ganz zu schweigen davon, dass einige Palästinenser niemals diesen kleinen Streifen Gaza verlassen haben, obwohl sie schon 30 oder 40 Jahre alt geworden sind.
Es geht ihnen aber nicht um das Reisen an sich, sondern vielmehr um das Gefühl, gleichwertig zu sein mit Israelis, Ägyptern und anderen.
Die Frage der Gleichbehandlung stellt sich aber auch für israelische Bürger palästinensischer Herkunft. Auch wenn einige wenige Palästinenser ihnen das Tragen des israelischen Passes vorwerfen wie Du meinst, so glauben die Araber in Israel als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, weil sie keine Juden sind. Kein gutes Zeugnis für die Demokratie in Israel.
Dennoch unterscheidet die Mehrheit der Palästinenser zwischen friedliebenden Israelis und Kriegstreibern. Persönlich freue ich mich sehr über die letzten großen Demonstrationen des israelischen Friedenslagers in Tel-Aviv und über das Ausharren der Frauen in Schwarz für Frieden in Jerusalem. Jedes mal wenn der israelische Oppositionelle Uri Avnery im deutschen Fernsehen auftritt, teilen viele meiner palästinensischen Freunde in Deutschland mit ihm die Vision einer friedlichen Zukunft. Viele von uns halten es mit dem palästinensischen Denker Edward Said, der Palästinenser und Araber ermuntert, auf die israelischen Friedenskräfte zu setzen.
Die israelische Zeitung Ma'ariv hatte kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage zur politischen Stimmung veröffentlicht. Danach verliert Scharon dramatisch an Zustimmung, weil er sein Wahlversprechen von Sicherheit und Frieden nicht einlösen konnte. Aber das Friedenslager ist noch nicht stark genug, um Scharon abzulösen.
Du schreibst, die alten Männer Scharon und Arafat wollten nur alte Rechnungen begleichen. Ich glaube nicht, dass das eine ausreichende Erklärung dafür ist, dass Scharon so handelt, wie er handelt. Nein! Scharon hat kein politisches Programm und will keine Lösungen, die aus Verhandlungen hervorgehen, egal, wer ihm gegenüber sitzt.
Auch die saudi-arabische Friedensinitiative will Scharon und seine Regierung nicht. Alle Einladungen zu gegenseitigen Staatsbesuchen wirken wie ein misslungener Public-Relations-Gag. Scharon will Beziehungen zu den wirtschaftlich interessanten arabischen Ländern zum Nulltarif. Aber das ernstgemeinte arabische Friedensangebot bedingt den Abzug Israels aus den besetzten Gebieten. Es ist auch schwer zu bestreiten, das diese völkerrechtswidrige Besatzung das Grundübel ist, und dass alles andere danach kam, auch, dass Menschen sich in die Luft sprengen und andere mit in den Tod reißen.
Meinst Du, dass es in der israelischen Gesellschaft Kräfte gibt, die diese Friedensinitiative unterstützen werden ? Welche Chancen haben sie sich durchzusetzen?

Bis demnächst
Mustafa Isaid, Köln

hagalil.com 02-05-2002

Books


DE-Titel
US-Titel

 
 
Refusenik Watch,
Refuse
Gush Shalom
New Profile
Shalom achshav
Taayush

[Hevenu Schalom
alenu!]

Radio Hebrew:
[
ZaHaL-WM]
[Kesher israeli]

Copyright: hagalil.com / 1995...

haGalil onLine