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Issa Sufs Brief an zwei anonyme Soldaten:
„Ich bedaure, dass Ihr zu Mördern wurdet“

von Gideon Levy
Ha'aretz / ZNet Deutschland 10.07.2004

Vor zwei Monaten, am 15.Mai, dem dritten Jahrestages seines „Unfalls“, entschied sich Issa Suf, ein palästinensischer Friedensaktivist, einen offenen Brief an die zwei anonymen Soldaten zu schreiben, die ihn damals angeschossen haben und deretwegen er nun lebenslang im Rollstuhl sitzen muss.

Suf ist als Friedensaktivist in israelischen linken Kreisen gut bekannt. Wared, sein drei ein halbjähriger Sohn, umarmt ihn. Der Junge wurde kurz vor dem Unfall geboren. Er hat nie seinen Vater auf seinen Beinen stehen gesehen. Er lebt mit seiner Frau in Haris, einem Dorf in der Nähe der jüdischen Siedlung Ariel. Das meiste Land des Dorfes wurde für die Siedlung Revava, die Industriezonen von Barkan und Ariel-West enteignet. Und nun der Zaun – wenn er hier gebaut wird, ist auch das restliche Land in Gefahr.

Haris ist besonders auch dafür bekannt, dass es von Siedlern belästigt wurde. Seit Sharon zur Macht kam, sagt Suf, verlassen sich die Siedler auf das israelische Militär, das die Bevölkerung schikaniert.... Das Dorf mit 3000 Einwohnern, seinen vielen Olivenbäumen und seinen verhältnismäßig gut aussehenden Häusern hat schon vier seiner Bewohner während der jetzigen Intifada verloren; zwei von ihnen waren Kinder. Siedler und Soldaten haben etwa 2000 Olivenbäume des Dorfes zerstört; der jüngste Baum war 50 Jahre alt. „Für die Älteren sind die Bäume wie Kinder. Als die Intifada anfing, brannte unser Dorf. Rund herum sind Siedlungen und unser Dorf liegt an einer der Hauptstraßen – vielleicht hatten sie deswegen etwas mit unserm Dorf vor.“

Suf hatte Journalismus in Nablus studiert und eine Turnlehrerprüfung in Amman gemacht. Er war dann Turnlehrer in Jericho. Er unterrichtete seine Schüler auch in Gewaltlosigkeit. Ihm geht die (Koran)Geschichte mit Ali nicht aus dem Kopf: Ali wurde von einem Juden angespuckt. Er zog deshalb sein Schwert aus der Scheide, entschied sich dann aber, den Juden am Leben zu lassen. „Im ersten Jahr suchten wir nach einer Methode oder einem Weg, um ohne Gewalt Widerstand zu leisten. Wir versuchten, die vermehrten Angriffe auf Leute und Eigentum zu stoppen. Wir glauben nicht an einen bewaffneten Kampf. Das menschliche Leben ist heilig, also alle menschlichen Wesen – Gott gab das Leben – und nur Gott kann es nehmen. Wir, mein älterer Bruder Natav und ich, begannen unsere Verbindungen zu den Israelis zu intensivieren, die an Frieden glauben und auch an unsere Rechte auf unser Land. Wir hatten gute Verbindungen zu Neta Golan, mit Ta’ayush, zu den Ärzten für Menschenrechte (PHR) und mit der Gruppe: „Schluss mit der Besatzung“. Wir hatten auch Kontakt zu Leuten im Ausland, die sich um Frieden bemühten.

Einen Monat bevor ich verletzt wurde, hielt ein Jeep an, und ein Soldat warf eine Gasgranate, die das Haus traf. Unser Haus war voll mit Kindern und schwangeren Frauen. Zwei Tage vor meiner Verletzung ging mein Bruder zu einem anderen Jeep und sagte zu den Soldaten: „ Wir haben Frauen und Kinder im Haus – warum werft ihr Tränengas? Wir werfen keine Steine, wir haben keine Waffen, wir sind keine Gefahr für euch?“

Am Morgen des Unfalls rief mich ein Freund aus einer Schreinerei weiter unten an der Straße an, dass Militär sich nähere und dass wir die Kinder und die Frauen ins Haus schicken sollen. Ich rief jedem zu, ins Haus zu gehen. Ich schloss die Türe hinter mir und ging noch hinüber zum Haus meines Vaters. Plötzlich hörte ich tak-tak aus einer automatischen Waffe. Ich fiel zu Boden. Warum? Woher? Wie? In dem Augenblick wusste ich nichts mehr. Ein paar Minuten vergingen. Dann sah ich, wie über mir zwei Soldaten stehen. „Steh auf! Steh auf!“ Ich versuchte, aber ich konnte nicht. „Ich sagte zu den Soldaten: Ihr habt auf mich geschossen und nun sagt ihr mir, ich solle aufstehen?“ Meine Stimme wurde schwächer. Die Soldaten standen etwa 20 Minuten neben meinem Kopf. Sie ließen niemanden zu mir. Sie warfen Lärm-Granaten auf sie und schossen in die Luft. Ich hatte das Gefühl, dass ich sterben würde. Ich sagte zu dem Soldaten: „Seid menschlich, lasst die Leute kommen, dass sie mir helfen, ich sterbe sonst.“

Als er im Krankenhaus aufwachte, hörte er den Arzt sagen, er werde für sein Leben lang gelähmt sein. „Das waren die ersten Worte, die ich hörte. Nach dem Röntgen sagte man mir, dass ein Dum-dum-Geschoss meine Wirbelsäule verletzt habe. ...“ ....Drei Monate lag er in einem Krankenhaus in Jordanien, wo ihm zwei Splitter entfernt wurden, doch zehn blieben im Körper ...“Ich erzähle das sehr schnell, doch damit zu leben ist etwas anderes, besonders auch für meine Familie ....“ Als er nach Hause kam, hatte man alles verändert: die Türen, die Toiletten, die Küche. ... „Ich fragte nicht, warum mir das geschehen musste ... Ich begann ein neues Leben – ohne Zorn. Meine Brüder halfen mir sehr.“ Mit Hilfe eines englischen Freundes und den Ärzten für Menschenrechten konnte er in England sich einer kostspieligen Rehabilitation unterziehen. „Nun bin ich unabhängiger und kann mir selber besser helfen.“

Seine Verbindungen zu den Israelis wurden weiter, ja intensiver gepflegt. „Meine Gefühle änderten sich nicht. Ich hasste niemanden. Nur die Politiker, die uns normale Leute auf beiden Seiten dahin bringen, Opfer ihrer Machtkämpfe und Interessen zu werden. Israelis besuchten mich immer wieder. Wir haben viele israelische Freunde. Manchmal schlafen sie auch hier. Wir hassen die Juden und Israelis nicht“. Wut hat er nur gegen die Art der Regierung, die all das Leiden verursacht. „ Ich denke sehr viel an den Soldaten. Nicht aus Rache. Ich denke, er ist unglücklich. Er ist wie ich ein Opfer – nicht mehr. Ich schrieb ihm, weil ich hoffe, dass es eines Tages möglich sei, dass wir uns treffen können, und ich in der Lage bin, etwas für ihn zu ändern. Ich möchte ihm das aus dem Kopf und Herz nehmen, das ihn bedrückt. Ich möchte alle Soldaten, die Palästinenser töteten, auf unsere Seite bringen. Ich möchte sie von der Seite voller Verbrechen und Hass auf die Seite von Schönheit und Frieden ziehen.

Da gibt es 3000 getötete Palästinenser – und auf der israelischen Seite gibt es 3000 Soldaten, die töteten . Die Armee wurde zu einer Armee von Mördern und Kriminellen. In einigen Jahren wird die israelische Gesellschaft in etwas verwandelt, das nicht gut ist. Und hier sehen wir die Besatzung – sie ist schrecklich. Für uns bedeutet sie Tod. Wirklich Tod. Sie nimmt unser Land, unsere Rechte, unsere Menschlichkeit ...sie will uns auslöschen. ...Ich kann nicht auf den Straßen fahren, nicht in die Städte, und wenn ich ins Krankenhaus ohne Genehmigung fahren will ....Einmal ließ mich ein Soldat am Checkpoint fünf Stunden im Rollstuhl in der Sonne stehen. Ich sagte ihm: der Rollstuhl ist meine Genehmigung – ich bin gelähmt. ...“

Am Nakbatag dieses Jahres, dem nationalen und dem persönlichen Gedenktag, schrieb Issa Suf einen Brief an den Soldaten, der auf ihn geschossen hat ( der Brief ist im Original auf arabisch):

„Ich erinnere mich an dich. Ich erinnere mich an dein bestürztes Gesicht, als du über meinem Kopf standest und verhindert hast, dass man mir hilft. Ich erinnere mich daran, wie meine Stimme schwächer wurde, als ich zu dir sagte: Sei menschlich und lass meine Eltern mir helfen. Ich habe all diese Bilder noch immer in meinem Kopf. Ich lag am Boden, versuchte aufzustehen, konnte aber nicht. Ich kämpfte gegen meine Atemnot; denn das Blut sammelte sich in meiner Lunge. Meine Stimme wurde schwächer, weil mein Zwerchfell verletzt war. Trotz all dem will ich dir nicht verbergen, dass ich Mitleid mit dir habe. Ich fühlte, dass ich stark war, weil ich Kräfte hatte, von denen ich vorher nichts wusste.

Das war genau vor drei Jahren. Ich eilte aus dem Haus, damit die Kinder des Dorfes vor der Gefahr des Tränengases geschützt werden. Sie waren gewohnt auf der staubigen Dorfstraße ihre einfachen Spiele zu spielen, während die schwangeren Frauen sie beobachteten und mit einander plauderten. Ich glaubte nicht, dass eure Waffen mit scharfen Kugeln oder Dum-dum-Geschossen bestückt sind, die nach internationalem Recht verboten sind. Es war mir noch möglich, die Kinder vor euren Geschossen zu schützen ... Es tut mit leid, dass ihr zu Mördern geworden seid. Schon in meiner Kindheit hasste ich das Töten, hasste Waffen und hasste die Farbe rot, genau so wie ich Ungerechtigkeit hasse und gegen sie kämpfe. So habe ich schon als junger Mensch das Leben verstanden, und so habe ich es andere gelehrt. Ich gab all meine Kraft um des Friedens und der Gerechtigkeit willen, damit das Leiden verringert wird, das durch egal welche Ungerechtigkeit verursacht wird. Ja, ihr tut mir leid, weil ihr krank seid. Krank von Hass und Abscheu, krank, um Ungerechtigkeit zu verursachen, krank vor Egoismus, krank wegen fehlendem Gewissen und mit Machtallüren. Von diesen Krankheiten sich zu erholen, dauert lange Zeit ... ist aber möglich. Ihr tut mir leid, eure Kinder tun mir leid und eure Frauen - und ich frage mich, wie können sie mit euch leben, da ihr Mörder seid. Ihr tut mir leid, weil ihr eure Menschlichkeit abgelegt habt und eure Werte und die Gebote eurer Religion, ja sogar eure militärischen Gesetze, die verbieten, in die Wohnungen einzubrechen und Zivilisten zu schlagen, weil dies die Moral der Soldaten untergräbt ...

Ihr tut mir leid, weil ihr die Opfer der Nazis von gestern geworden seid – und ich verstehe nicht, wie die Opfer von gestern die Kriminellen von heute werden können. Das beunruhigt mich im Zusammenhang mit den Opfern von heute – mein Volk gehört zu diesen Opfern – und ich fürchte, dass sie die Kriminellen von morgen werden. Ihr tut mir leid, weil ihr Opfer einer Kultur wurdet, für die das Leben zur Basis des Tötens, der Zerstörung, des Verbreitens von Angst und Schrecken und des Herrschens über andere wurde .

Trotz all dem glaube ich, dass es eine Chance für Versöhnung und Vergeben gibt und eine Möglichkeit, dass ihr etwas von eurer verlorenen Menschlichkeit und Moral wieder zurück erhaltet. Ihr könnt euch von der Krankheit von Hass und Rachsucht erholen. Und sollten wir uns eines Tages begegnen, sogar in meinem Haus, dann kannst du sicher sein, dass ich keinen Sprengstoffgürtel bereit halte oder ein Messer in meiner Tasche oder meinem Rollstuhl verberge. du wirst hier jemanden vorfinden, der dir helfen will, das wiederzufinden, was du verloren hast.

Du wirst ein sanftes und empfindliches Kind vorfinden, das so alt ist wie die Sekunde, in der du den Abzug deiner Waffen gezogen hast und das nie seinen Vater auf seinen zwei Füßen stehen sehen wird, das aber voller Stolz und Kraft ist, auch wenn es den Rollstuhl seines Vaters schieben muss, da es keine andere Wahl hat. Selbst wenn ich Gründe hätte, dich zu hassen, so empfinde ich nicht so und bedaure es auch nicht.

Issa Suf

http://www.zmag.de Übersetzt von: Ellen Rohlfs

hagalil.com 16-07-2004

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